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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, ei-
genhändig mit einem Pfeile erschoß; es sey nun,
weil sie besorgte, er möchte den Tod seines Va-
ters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grau-
same Gemüthsart dazu veranlaßte. Der jüngste
Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder
in der Regierung, und zwang seine abscheuliche
Mutter, daß sie den Giftbecher, dem sie ihm
zugedacht hatte, selbst trinken mußte."

In dieser Erzehlung lag Stoff zu mehr als
einem Trauerspiele. Es würde Corneillen eben
nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen
Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius,
einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm,
eine Rodogune daraus zu erschaffen, kostete.
Was ihn aber vorzüglich darinn reitzte, war die
beleidigte Ehefrau, welche die usurpirten Rechte
ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug
rächen zu können glaubet. Diese also nahm er
heraus; und es ist unstreitig, daß so nach sein
Stück nicht Rodogune, sondern Cleopatra heis-
sen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil
er besorgte, daß die Zuhörer diese Königinn von
Syrien mit jener berühmten letzten Königinn
von Aegypten gleiches Namens verwechseln
dürften, wollte er lieber von der zweyten, als
von der ersten Person den Titel hernehmen.
"Ich glaubte mich, sagt er, dieser Freyheit um

so

dem Tode ſeines Vaters den Thron beſtieg, ei-
genhaͤndig mit einem Pfeile erſchoß; es ſey nun,
weil ſie beſorgte, er moͤchte den Tod ſeines Va-
ters an ihr raͤchen, oder weil ſie ſonſt ihre grau-
ſame Gemuͤthsart dazu veranlaßte. Der juͤngſte
Sohn hieß Antiochus; er folgte ſeinem Bruder
in der Regierung, und zwang ſeine abſcheuliche
Mutter, daß ſie den Giftbecher, dem ſie ihm
zugedacht hatte, ſelbſt trinken mußte.〟

In dieſer Erzehlung lag Stoff zu mehr als
einem Trauerſpiele. Es wuͤrde Corneillen eben
nicht viel mehr Erfindung gekoſtet haben, einen
Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius,
einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm,
eine Rodogune daraus zu erſchaffen, koſtete.
Was ihn aber vorzuͤglich darinn reitzte, war die
beleidigte Ehefrau, welche die uſurpirten Rechte
ihres Ranges und Bettes nicht grauſam genug
raͤchen zu koͤnnen glaubet. Dieſe alſo nahm er
heraus; und es iſt unſtreitig, daß ſo nach ſein
Stuͤck nicht Rodogune, ſondern Cleopatra heiſ-
ſen ſollte. Er geſtand es ſelbſt, und nur weil
er beſorgte, daß die Zuhoͤrer dieſe Koͤniginn von
Syrien mit jener beruͤhmten letzten Koͤniginn
von Aegypten gleiches Namens verwechſeln
duͤrften, wollte er lieber von der zweyten, als
von der erſten Perſon den Titel hernehmen.
〟Ich glaubte mich, ſagt er, dieſer Freyheit um

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[230/0244] dem Tode ſeines Vaters den Thron beſtieg, ei- genhaͤndig mit einem Pfeile erſchoß; es ſey nun, weil ſie beſorgte, er moͤchte den Tod ſeines Va- ters an ihr raͤchen, oder weil ſie ſonſt ihre grau- ſame Gemuͤthsart dazu veranlaßte. Der juͤngſte Sohn hieß Antiochus; er folgte ſeinem Bruder in der Regierung, und zwang ſeine abſcheuliche Mutter, daß ſie den Giftbecher, dem ſie ihm zugedacht hatte, ſelbſt trinken mußte.〟 In dieſer Erzehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerſpiele. Es wuͤrde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekoſtet haben, einen Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius, einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm, eine Rodogune daraus zu erſchaffen, koſtete. Was ihn aber vorzuͤglich darinn reitzte, war die beleidigte Ehefrau, welche die uſurpirten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grauſam genug raͤchen zu koͤnnen glaubet. Dieſe alſo nahm er heraus; und es iſt unſtreitig, daß ſo nach ſein Stuͤck nicht Rodogune, ſondern Cleopatra heiſ- ſen ſollte. Er geſtand es ſelbſt, und nur weil er beſorgte, daß die Zuhoͤrer dieſe Koͤniginn von Syrien mit jener beruͤhmten letzten Koͤniginn von Aegypten gleiches Namens verwechſeln duͤrften, wollte er lieber von der zweyten, als von der erſten Perſon den Titel hernehmen. 〟Ich glaubte mich, ſagt er, dieſer Freyheit um ſo

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/244>, abgerufen am 24.11.2024.