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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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hinterläßt. An diese hatte die Mutter in der
Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur
als an Ihre Söhne gedacht, von deren Ergeben-
heit sie versichert sey, oder deren kindlicher Eifer
doch, wenn er unter Aeltern wählen müßte,
ohnfehlbar sich für den zuerst beleidigten Theil
erklären würde. Sie fand es aber so nicht; der
Sohn ward König, und der König sahe in der
Cleopatra nicht die Mutter, sondern die Königs-
mörderinn. Sie hatte alles von ihm zu fürch-
ten; und von dem Augenblicke an, er alles von
ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Her-
zen; noch war der treulose Gemahl in seinen
Söhnen übrig; sie fieng an alles zu hassen, was
sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben;
die Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die
Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi-
gerinn fertiger, als der Beleidigte; sie begieng
den zweyten Mord, um den ersten ungestraft
begangen zu haben; sie begieng ihn an ihrem
Sohne, und beruhigte sich mit der Vorstellung,
daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes
Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich
nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvor-
komme. Das Schicksal des ältern Sohnes
wäre auch das Schicksal des jüngern geworden;
aber dieser war rascher, oder war glücklicher.
Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das
sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbre-

chen

hinterlaͤßt. An dieſe hatte die Mutter in der
Hitze ihrer Leidenſchaft nicht gedacht, oder nur
als an Ihre Soͤhne gedacht, von deren Ergeben-
heit ſie verſichert ſey, oder deren kindlicher Eifer
doch, wenn er unter Aeltern waͤhlen muͤßte,
ohnfehlbar ſich fuͤr den zuerſt beleidigten Theil
erklaͤren wuͤrde. Sie fand es aber ſo nicht; der
Sohn ward Koͤnig, und der Koͤnig ſahe in der
Cleopatra nicht die Mutter, ſondern die Koͤnigs-
moͤrderinn. Sie hatte alles von ihm zu fuͤrch-
ten; und von dem Augenblicke an, er alles von
ihr. Noch kochte die Eiferſucht in ihrem Her-
zen; noch war der treuloſe Gemahl in ſeinen
Soͤhnen uͤbrig; ſie fieng an alles zu haſſen, was
ſie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben;
die Selbſterhaltung ſtaͤrkte dieſen Haß; die
Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi-
gerinn fertiger, als der Beleidigte; ſie begieng
den zweyten Mord, um den erſten ungeſtraft
begangen zu haben; ſie begieng ihn an ihrem
Sohne, und beruhigte ſich mit der Vorſtellung,
daß ſie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes
Verderben beſchloſſen habe, daß ſie eigentlich
nicht morde, daß ſie ihrer Ermordung nur zuvor-
komme. Das Schickſal des aͤltern Sohnes
waͤre auch das Schickſal des juͤngern geworden;
aber dieſer war raſcher, oder war gluͤcklicher.
Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das
ſie ihm bereitet hat; ein unmenſchliches Verbre-

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[234/0248] hinterlaͤßt. An dieſe hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenſchaft nicht gedacht, oder nur als an Ihre Soͤhne gedacht, von deren Ergeben- heit ſie verſichert ſey, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Aeltern waͤhlen muͤßte, ohnfehlbar ſich fuͤr den zuerſt beleidigten Theil erklaͤren wuͤrde. Sie fand es aber ſo nicht; der Sohn ward Koͤnig, und der Koͤnig ſahe in der Cleopatra nicht die Mutter, ſondern die Koͤnigs- moͤrderinn. Sie hatte alles von ihm zu fuͤrch- ten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eiferſucht in ihrem Her- zen; noch war der treuloſe Gemahl in ſeinen Soͤhnen uͤbrig; ſie fieng an alles zu haſſen, was ſie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbſterhaltung ſtaͤrkte dieſen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi- gerinn fertiger, als der Beleidigte; ſie begieng den zweyten Mord, um den erſten ungeſtraft begangen zu haben; ſie begieng ihn an ihrem Sohne, und beruhigte ſich mit der Vorſtellung, daß ſie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beſchloſſen habe, daß ſie eigentlich nicht morde, daß ſie ihrer Ermordung nur zuvor- komme. Das Schickſal des aͤltern Sohnes waͤre auch das Schickſal des juͤngern geworden; aber dieſer war raſcher, oder war gluͤcklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das ſie ihm bereitet hat; ein unmenſchliches Verbre- chen

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/248>, abgerufen am 21.11.2024.