Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, -- wird gedruckt und aufgeführt, -- gelesen und angese- hen, -- bewundert oder ausgepfiffen, -- beybe- halten oder vergessen, -- so wie es das liebe Glück will. Denn & habent sua fata libelli.
Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen? -- Nach dem geheimnißvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine Rodogune, nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück des größten tragi- schen Dichters, von ganz Frankreich, und gele- gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor- den. Kann eine hundertjährige Bewunderung wohl ohne Grund seyn? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur- gischen Dramaturgisten auf behalten, Flecken in der Sonne zu sehen, und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?
O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb- te, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, ir- gendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den
Kopf
Wunder fertig; es heißt ein Trauerſpiel, — wird gedruckt und aufgefuͤhrt, — geleſen und angeſe- hen, — bewundert oder ausgepfiffen, — beybe- halten oder vergeſſen, — ſo wie es das liebe Gluͤck will. Denn & habent ſua fata libelli.
Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich ſie noch lange zu machen? — Nach dem geheimnißvollen Schickſale, welches die Schriften ſo gut als die Menſchen haben, iſt ſeine Rodogune, nun laͤnger als hundert Jahr, als das groͤßte Meiſterſtuͤck des groͤßten tragi- ſchen Dichters, von ganz Frankreich, und gele- gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor- den. Kann eine hundertjaͤhrige Bewunderung wohl ohne Grund ſeyn? Wo haben die Menſchen ſo lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur- giſchen Dramaturgiſten auf behalten, Flecken in der Sonne zu ſehen, und ein Geſtirn auf ein Meteor herabzuſetzen?
O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte ſaß einmal ein ehrlicher Hurone in der Baſtille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er ſchon in Paris war; und vor langer Weile ſtudierte er die franzoͤſiſchen Poeten; dieſem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb- te, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, ir- gendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den
Kopf
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Wunder fertig; es heißt ein Trauerſpiel, — wird
gedruckt und aufgefuͤhrt, — geleſen und angeſe-
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halten oder vergeſſen, — ſo wie es das liebe Gluͤck
will. Denn & habent ſua fata libelli.
Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon
auf den großen Corneille zu machen? Oder
brauche ich ſie noch lange zu machen? — Nach
dem geheimnißvollen Schickſale, welches die
Schriften ſo gut als die Menſchen haben, iſt
ſeine Rodogune, nun laͤnger als hundert Jahr,
als das groͤßte Meiſterſtuͤck des groͤßten tragi-
ſchen Dichters, von ganz Frankreich, und gele-
gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor-
den. Kann eine hundertjaͤhrige Bewunderung
wohl ohne Grund ſeyn? Wo haben die Menſchen
ſo lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt?
War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur-
giſchen Dramaturgiſten auf behalten, Flecken
in der Sonne zu ſehen, und ein Geſtirn auf ein
Meteor herabzuſetzen?
O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte ſaß
einmal ein ehrlicher Hurone in der Baſtille zu
Paris; dem ward die Zeit lang, ob er ſchon in
Paris war; und vor langer Weile ſtudierte er
die franzoͤſiſchen Poeten; dieſem Huronen wollte
die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/268>, abgerufen am 22.11.2024.
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