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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Kopf von den Trauerspielen der Griechen und
seiner Landesleute des sechszehnten Seculi voll,
und der fand an der Rodogune gleichfals vieles
auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren
sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger
Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn,
weil er reich war, und ein sehr gutes Herz hatte,
so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelinn
dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen
Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen,
sammelte Allmosen für sie, schrieb zu ihrer Aus-
steuer einen großen einträglichen Commentar
über die Werke ihres Großvaters u. s. w.) aber
gleichwohl erklärte er die Rodogune für ein sehr
ungereimtes Gedicht, und wollte sich des Todes
verwundern, wie ein so großer Mann, als der
große Corneille, solch widersinniges Zeug habe
schreiben können. -- Bey einem von diesen ist der
Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegan-
gen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bey dem
letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Fran-
zose, der den Ausländern über die Fehler eines
Franzosen die Augen eröffnet. Diesem ganz
gewiß betet er nach; -- oder ist es nicht diesem,
wenigstens dem Welschen, -- wo nicht gar dem
Huronen. Von einem muß er es doch haben.
Denn daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst
die Kühnheit hätte, an der Vortrefflichkeit eines
Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?

Ich

Kopf von den Trauerſpielen der Griechen und
ſeiner Landesleute des ſechszehnten Seculi voll,
und der fand an der Rodogune gleichfals vieles
auszuſetzen. Endlich kam vor einigen Jahren
ſogar auch ein Franzoſe, ſonſt ein gewaltiger
Verehrer des Corneilleſchen Namens, (denn,
weil er reich war, und ein ſehr gutes Herz hatte,
ſo nahm er ſich einer armen verlaßnen Enkelinn
dieſes großen Dichters an, ließ ſie unter ſeinen
Augen erziehen, lehrte ſie huͤbſche Verſe machen,
ſammelte Allmoſen fuͤr ſie, ſchrieb zu ihrer Aus-
ſteuer einen großen eintraͤglichen Commentar
uͤber die Werke ihres Großvaters u. ſ. w.) aber
gleichwohl erklaͤrte er die Rodogune fuͤr ein ſehr
ungereimtes Gedicht, und wollte ſich des Todes
verwundern, wie ein ſo großer Mann, als der
große Corneille, ſolch widerſinniges Zeug habe
ſchreiben koͤnnen. — Bey einem von dieſen iſt der
Dramaturgiſt ohnſtreitig in die Schule gegan-
gen; und aller Wahrſcheinlichkeit nach bey dem
letztern; denn es iſt doch gemeiniglich ein Fran-
zoſe, der den Auslaͤndern uͤber die Fehler eines
Franzoſen die Augen eroͤffnet. Dieſem ganz
gewiß betet er nach; — oder iſt es nicht dieſem,
wenigſtens dem Welſchen, — wo nicht gar dem
Huronen. Von einem muß er es doch haben.
Denn daß ein Deutſcher ſelbſt daͤchte, von ſelbſt
die Kuͤhnheit haͤtte, an der Vortrefflichkeit eines
Franzoſen zu zweifeln, wer kann ſich das einbilden?

Ich
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[255/0269] Kopf von den Trauerſpielen der Griechen und ſeiner Landesleute des ſechszehnten Seculi voll, und der fand an der Rodogune gleichfals vieles auszuſetzen. Endlich kam vor einigen Jahren ſogar auch ein Franzoſe, ſonſt ein gewaltiger Verehrer des Corneilleſchen Namens, (denn, weil er reich war, und ein ſehr gutes Herz hatte, ſo nahm er ſich einer armen verlaßnen Enkelinn dieſes großen Dichters an, ließ ſie unter ſeinen Augen erziehen, lehrte ſie huͤbſche Verſe machen, ſammelte Allmoſen fuͤr ſie, ſchrieb zu ihrer Aus- ſteuer einen großen eintraͤglichen Commentar uͤber die Werke ihres Großvaters u. ſ. w.) aber gleichwohl erklaͤrte er die Rodogune fuͤr ein ſehr ungereimtes Gedicht, und wollte ſich des Todes verwundern, wie ein ſo großer Mann, als der große Corneille, ſolch widerſinniges Zeug habe ſchreiben koͤnnen. — Bey einem von dieſen iſt der Dramaturgiſt ohnſtreitig in die Schule gegan- gen; und aller Wahrſcheinlichkeit nach bey dem letztern; denn es iſt doch gemeiniglich ein Fran- zoſe, der den Auslaͤndern uͤber die Fehler eines Franzoſen die Augen eroͤffnet. Dieſem ganz gewiß betet er nach; — oder iſt es nicht dieſem, wenigſtens dem Welſchen, — wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutſcher ſelbſt daͤchte, von ſelbſt die Kuͤhnheit haͤtte, an der Vortrefflichkeit eines Franzoſen zu zweifeln, wer kann ſich das einbilden? Ich

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/269>, abgerufen am 22.11.2024.