weit speciellere dabey zur Absicht gehabt. "Ich nahm mir vor, sagt er, die Thorheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An- sehen und Gewalt zur Gefälligkeit bringen wol- len; ich wählte also zum Beyspiele einen Sultan und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der Herrschaft und Abhängigkeit." Allein Mar- montel muß sicherlich auch diesen seinen Vorsatz während der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den ge- ringsten Versuch einiger Gewaltsamkeit von Seiten des Sultans; er ist gleich bey den ersten Insolenzen, die ihm die galante Französinn sagt, der zurückhaltendste, nachgebendste, gefälligste, folgsamste, unterthänigste Mann, la meilleure pate de mari, als kaum in Frankreich zu finden seyn würde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzehlung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bey dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Käfer, wenn er alle Blumen durchschwärmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.
Doch Moral oder keine Moral; dem drama- tischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus sei- ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern läßt oder nicht; und also war die Erzehlung des Mar- montel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das that Favart, und sehr glücklich. Ich
rathe
K k 3
weit ſpeciellere dabey zur Abſicht gehabt. 〟Ich nahm mir vor, ſagt er, die Thorheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An- ſehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol- len; ich waͤhlte alſo zum Beyſpiele einen Sultan und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der Herrſchaft und Abhaͤngigkeit.〟 Allein Mar- montel muß ſicherlich auch dieſen ſeinen Vorſatz waͤhrend der Ausarbeitung vergeſſen haben; faſt nichts zielet dahin ab; man ſieht nicht den ge- ringſten Verſuch einiger Gewaltſamkeit von Seiten des Sultans; er iſt gleich bey den erſten Inſolenzen, die ihm die galante Franzoͤſinn ſagt, der zuruͤckhaltendſte, nachgebendſte, gefaͤlligſte, folgſamſte, unterthaͤnigſte Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden ſeyn wuͤrde. Alſo nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieſer Erzehlung des Marmontel, oder es iſt die, auf welche ich, oben bey dem Charakter des Sultans, gewieſen: der Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchſchwaͤrmt hat, bleibt endlich auf dem Miſte liegen.
Doch Moral oder keine Moral; dem drama- tiſchen Dichter iſt es gleich viel, ob ſich aus ſei- ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt oder nicht; und alſo war die Erzehlung des Mar- montel darum nichts mehr und nichts weniger geſchickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das that Favart, und ſehr gluͤcklich. Ich
rathe
K k 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0275"n="261"/>
weit ſpeciellere dabey zur Abſicht gehabt. <cit><quote>〟Ich<lb/>
nahm mir vor, ſagt er, die Thorheit derjenigen<lb/>
zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An-<lb/>ſehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol-<lb/>
len; ich waͤhlte alſo zum Beyſpiele einen Sultan<lb/>
und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der<lb/>
Herrſchaft und Abhaͤngigkeit.〟</quote></cit> Allein Mar-<lb/>
montel muß ſicherlich auch dieſen ſeinen Vorſatz<lb/>
waͤhrend der Ausarbeitung vergeſſen haben; faſt<lb/>
nichts zielet dahin ab; man ſieht nicht den ge-<lb/>
ringſten Verſuch einiger Gewaltſamkeit von<lb/>
Seiten des Sultans; er iſt gleich bey den erſten<lb/>
Inſolenzen, die ihm die galante Franzoͤſinn ſagt,<lb/>
der zuruͤckhaltendſte, nachgebendſte, gefaͤlligſte,<lb/>
folgſamſte, unterthaͤnigſte Mann, <cit><quote><hirendition="#aq">la meilleure<lb/>
pâte de mari,</hi></quote></cit> als kaum in Frankreich zu finden<lb/>ſeyn wuͤrde. Alſo nur gerade heraus; entweder<lb/>
es liegt gar keine Moral in dieſer Erzehlung des<lb/>
Marmontel, oder es iſt die, auf welche ich, oben<lb/>
bey dem Charakter des Sultans, gewieſen: der<lb/>
Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchſchwaͤrmt<lb/>
hat, bleibt endlich auf dem Miſte liegen.</p><lb/><p>Doch Moral oder keine Moral; dem drama-<lb/>
tiſchen Dichter iſt es gleich viel, ob ſich aus ſei-<lb/>
ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt<lb/>
oder nicht; und alſo war die Erzehlung des Mar-<lb/>
montel darum nichts mehr und nichts weniger<lb/>
geſchickt, auf das Theater gebracht zu werden.<lb/>
Das that Favart, und ſehr gluͤcklich. Ich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">K k 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">rathe</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[261/0275]
weit ſpeciellere dabey zur Abſicht gehabt. 〟Ich
nahm mir vor, ſagt er, die Thorheit derjenigen
zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An-
ſehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol-
len; ich waͤhlte alſo zum Beyſpiele einen Sultan
und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der
Herrſchaft und Abhaͤngigkeit.〟 Allein Mar-
montel muß ſicherlich auch dieſen ſeinen Vorſatz
waͤhrend der Ausarbeitung vergeſſen haben; faſt
nichts zielet dahin ab; man ſieht nicht den ge-
ringſten Verſuch einiger Gewaltſamkeit von
Seiten des Sultans; er iſt gleich bey den erſten
Inſolenzen, die ihm die galante Franzoͤſinn ſagt,
der zuruͤckhaltendſte, nachgebendſte, gefaͤlligſte,
folgſamſte, unterthaͤnigſte Mann, la meilleure
pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden
ſeyn wuͤrde. Alſo nur gerade heraus; entweder
es liegt gar keine Moral in dieſer Erzehlung des
Marmontel, oder es iſt die, auf welche ich, oben
bey dem Charakter des Sultans, gewieſen: der
Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchſchwaͤrmt
hat, bleibt endlich auf dem Miſte liegen.
Doch Moral oder keine Moral; dem drama-
tiſchen Dichter iſt es gleich viel, ob ſich aus ſei-
ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt
oder nicht; und alſo war die Erzehlung des Mar-
montel darum nichts mehr und nichts weniger
geſchickt, auf das Theater gebracht zu werden.
Das that Favart, und ſehr gluͤcklich. Ich
rathe
K k 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/275>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.