Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntniß bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Facta her- vor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europäische Skla- vinn gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlinn des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Factum. Die Charaktere dieser Sklavinn und dieses Kaisers bestim- men die Art und Weise, wie dieses Factum wirklich ge- worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha- rakteren wirklich werden können; so steht es freylich bey dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget, oder eine andere, so wie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzehlung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere, als die historischen, oder wohl gar diesen völlig entgegen gesetzte wählet, auch der histori- schen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beylegen, als bekann- ten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntniß, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren, und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntniß, die wir bereits ha- ben, und ist dadurch unangenehm. Die Facta betrach- ten wir als etwas zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein seyn kann; die Charaktere hingegen als etwas wesentliches u. eigenthümliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheinet uns die Individulität aufzuheben, und andere Perso- nen unterzuschieben, betrügerische Personen, die frem- de Namen usurpiren, und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind.
Ham-
Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, ſondern in der Erkenntniß beſtehet, daß dieſe Charaktere unter dieſen Umſtaͤnden ſolche Facta her- vor zu bringen pflegen, und hervor bringen muͤſſen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europaͤiſche Skla- vinn gegeben, die ſich zur geſetzmaͤßigen Gemahlinn des Kaiſers zu machen gewußt: das iſt das Factum. Die Charaktere dieſer Sklavinn und dieſes Kaiſers beſtim- men die Art und Weiſe, wie dieſes Factum wirklich ge- worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha- rakteren wirklich werden koͤnnen; ſo ſteht es freylich bey dem Dichter, als Dichter, welche von dieſen Arten er waͤhlen will; ob die, welche die Hiſtorie beſtaͤtiget, oder eine andere, ſo wie der moraliſchen Abſicht, die er mit ſeiner Erzehlung verbindet, das eine oder das andere gemaͤßer iſt. Nur ſollte er ſich, im Fall daß er andere Charaktere, als die hiſtoriſchen, oder wohl gar dieſen voͤllig entgegen geſetzte waͤhlet, auch der hiſtori- ſchen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Perſonen das bekannte Factum beylegen, als bekann- ten Perſonen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unſere Kenntniß, oder ſcheinet ſie wenigſtens zu vermehren, und iſt dadurch angenehm. Dieſes widerſpricht der Kenntniß, die wir bereits ha- ben, und iſt dadurch unangenehm. Die Facta betrach- ten wir als etwas zufaͤlliges, als etwas, das mehrern Perſonen gemein ſeyn kann; die Charaktere hingegen als etwas weſentliches u. eigenthuͤmliches. Mit jenen laſſen wir den Dichter umſpringen, wie er will, ſo lange er ſie nur nicht mit den Charakteren in Widerſpruch ſetzet; dieſe hingegen darf er wohl ins Licht ſtellen, aber nicht veraͤndern; die geringſte Veraͤnderung ſcheinet uns die Individulitaͤt aufzuheben, und andere Perſo- nen unterzuſchieben, betruͤgeriſche Perſonen, die frem- de Namen uſurpiren, und ſich fuͤr etwas ausgeben, was ſie nicht ſind.
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Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen
Factis, ſondern in der Erkenntniß beſtehet, daß dieſe
Charaktere unter dieſen Umſtaͤnden ſolche Facta her-
vor zu bringen pflegen, und hervor bringen muͤſſen.
Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß
es einmal in dem Serraglio eine europaͤiſche Skla-
vinn gegeben, die ſich zur geſetzmaͤßigen Gemahlinn des
Kaiſers zu machen gewußt: das iſt das Factum. Die
Charaktere dieſer Sklavinn und dieſes Kaiſers beſtim-
men die Art und Weiſe, wie dieſes Factum wirklich ge-
worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha-
rakteren wirklich werden koͤnnen; ſo ſteht es freylich
bey dem Dichter, als Dichter, welche von dieſen Arten
er waͤhlen will; ob die, welche die Hiſtorie beſtaͤtiget,
oder eine andere, ſo wie der moraliſchen Abſicht, die
er mit ſeiner Erzehlung verbindet, das eine oder das
andere gemaͤßer iſt. Nur ſollte er ſich, im Fall daß er
andere Charaktere, als die hiſtoriſchen, oder wohl gar
dieſen voͤllig entgegen geſetzte waͤhlet, auch der hiſtori-
ſchen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten
Perſonen das bekannte Factum beylegen, als bekann-
ten Perſonen nicht zukommende Charaktere andichten.
Jenes vermehret unſere Kenntniß, oder ſcheinet ſie
wenigſtens zu vermehren, und iſt dadurch angenehm.
Dieſes widerſpricht der Kenntniß, die wir bereits ha-
ben, und iſt dadurch unangenehm. Die Facta betrach-
ten wir als etwas zufaͤlliges, als etwas, das mehrern
Perſonen gemein ſeyn kann; die Charaktere hingegen
als etwas weſentliches u. eigenthuͤmliches. Mit jenen
laſſen wir den Dichter umſpringen, wie er will, ſo lange
er ſie nur nicht mit den Charakteren in Widerſpruch
ſetzet; dieſe hingegen darf er wohl ins Licht ſtellen, aber
nicht veraͤndern; die geringſte Veraͤnderung ſcheinet
uns die Individulitaͤt aufzuheben, und andere Perſo-
nen unterzuſchieben, betruͤgeriſche Perſonen, die frem-
de Namen uſurpiren, und ſich fuͤr etwas ausgeben, was
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/278>, abgerufen am 22.11.2024.
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