Hamburgische Dramaturgie. Vier und dreyßigstes Stück.
Den 25sten August, 1767.
Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte giebt, als in diesen freywillig ge- wählten Charakteren selbst, es sey von Seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie beste- hen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es ver- gönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichthum aus; (*) was es gehört oder gelesen, hat es ent- weder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht
wissen,
(*)Pindarus Olymp. II. str. 5. v. 10.
L l
Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und dreyßigſtes Stuͤck.
Den 25ſten Auguſt, 1767.
Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge- waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte- hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver- goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum aus; (*) was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent- weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht
wiſſen,
(*)Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v. 10.
L l
<TEI><text><body><pbfacs="#f0279"n="[265]"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Hamburgiſche<lb/><hirendition="#g">Dramaturgie.</hi><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
Vier und dreyßigſtes Stuͤck.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><dateline><hirendition="#c">Den 25ſten Auguſt, 1767.</hi></dateline><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">A</hi>ber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit<lb/>
verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen<lb/>
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen<lb/>
die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge-<lb/>
waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten<lb/>
der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten<lb/>
des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener<lb/>
Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte-<lb/>
hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver-<lb/>
goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder<lb/>
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath<lb/>ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus<lb/>ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor<lb/>
zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum<lb/>
aus; <noteplace="foot"n="(*)"><hirendition="#aq">Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v.</hi> 10.</note> was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent-<lb/>
weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">wiſſen,</fw><lb/><fwplace="bottom"type="sig">L l</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[[265]/0279]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und dreyßigſtes Stuͤck.
Den 25ſten Auguſt, 1767.
Aber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit
verzeihlicherer Fehler, ſeinen Perſonen
nicht die Charaktere zu geben, die ihnen
die Geſchichte giebt, als in dieſen freywillig ge-
waͤhlten Charakteren ſelbſt, es ſey von Seiten
der innern Wahrſcheinlichkeit, oder von Seiten
des Unterrichtenden, zu verſtoßen. Denn jener
Fehler kann vollkommen mit dem Genie beſte-
hen; nicht aber dieſer. Dem Genie iſt es ver-
goͤnnt, tauſend Dinge nicht zu wiſſen, die jeder
Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath
ſeines Gedaͤchtniſſes, ſondern das, was es aus
ſich ſelbſt, aus ſeinem eigenen Gefuͤhl, hervor
zu bringen vermag, macht ſeinen Reichthum
aus; (*) was es gehoͤrt oder geleſen, hat es ent-
weder wieder vergeſſen, oder mag es weiter nicht
wiſſen,
(*) Pindarus Olymp. II. ſtr. 5. v. 10.
L l
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/279>, abgerufen am 01.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.