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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt,
freye Herzen, die sich aus blosser Liebe zu seiner
Person die Sklaverey gefallen liessen; er hätte
ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber
weiß er, was er will? Die zärtliche Elmire wird
von einer wollüstigen Delia verdrengt, bis ihm
eine Unbesonnene den Strick über die Hörner
wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen
muß, ehe er die zweydeutige Gunst geniesset,
die bisher immer der Tod seiner Begierden ge-
wesen. Wird sie es nicht auch hier seyn? Ich
muß lachen über den guten Sultan, und er ver-
diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El-
mire und Delia, nach dem Genusse auf einmal
alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was
wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Au-
genblicke, für ihn noch behalten? Wird er es,
acht Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe
werth halten, ihr dieses Opfer gebracht zu ha-
ben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten
Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Au-
gen gewischt, in seiner verehelichten Sultane
weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frech-
heit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt,
ich höre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo
habe ich meine Augen gehabt!

Ich leugne nicht, daß bey alle den Widersprü-
chen, die uns diesen Solimann so armselig und
verächtlich machen, er nicht wirklich seyn könnte?

Es
L l 3

Er ſuchte, wie ihn Marmontel ſelbſt ſagen laͤßt,
freye Herzen, die ſich aus bloſſer Liebe zu ſeiner
Perſon die Sklaverey gefallen lieſſen; er haͤtte
ein ſolches Herz an der Elmire gefunden; aber
weiß er, was er will? Die zaͤrtliche Elmire wird
von einer wolluͤſtigen Delia verdrengt, bis ihm
eine Unbeſonnene den Strick uͤber die Hoͤrner
wirft, der er ſich ſelbſt zum Sklaven machen
muß, ehe er die zweydeutige Gunſt genieſſet,
die bisher immer der Tod ſeiner Begierden ge-
weſen. Wird ſie es nicht auch hier ſeyn? Ich
muß lachen uͤber den guten Sultan, und er ver-
diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El-
mire und Delia, nach dem Genuſſe auf einmal
alles verlieren, was ihn vorher entzuͤckte: was
wird denn Roxelane, nach dieſem kritiſchen Au-
genblicke, fuͤr ihn noch behalten? Wird er es,
acht Tage nach ihrer Kroͤnung, noch der Muͤhe
werth halten, ihr dieſes Opfer gebracht zu ha-
ben? Ich fuͤrchte ſehr, daß er ſchon den erſten
Morgen, ſobald er ſich den Schlaf aus den Au-
gen gewiſcht, in ſeiner verehelichten Sultane
weiter nichts ſieht, als ihre zuverſichtliche Frech-
heit und ihre aufgeſtuͤlpte Naſe. Mich duͤnkt,
ich hoͤre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo
habe ich meine Augen gehabt!

Ich leugne nicht, daß bey alle den Widerſpruͤ-
chen, die uns dieſen Solimann ſo armſelig und
veraͤchtlich machen, er nicht wirklich ſeyn koͤnnte?

Es
L l 3
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[269/0283] Er ſuchte, wie ihn Marmontel ſelbſt ſagen laͤßt, freye Herzen, die ſich aus bloſſer Liebe zu ſeiner Perſon die Sklaverey gefallen lieſſen; er haͤtte ein ſolches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zaͤrtliche Elmire wird von einer wolluͤſtigen Delia verdrengt, bis ihm eine Unbeſonnene den Strick uͤber die Hoͤrner wirft, der er ſich ſelbſt zum Sklaven machen muß, ehe er die zweydeutige Gunſt genieſſet, die bisher immer der Tod ſeiner Begierden ge- weſen. Wird ſie es nicht auch hier ſeyn? Ich muß lachen uͤber den guten Sultan, und er ver- diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El- mire und Delia, nach dem Genuſſe auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzuͤckte: was wird denn Roxelane, nach dieſem kritiſchen Au- genblicke, fuͤr ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Kroͤnung, noch der Muͤhe werth halten, ihr dieſes Opfer gebracht zu ha- ben? Ich fuͤrchte ſehr, daß er ſchon den erſten Morgen, ſobald er ſich den Schlaf aus den Au- gen gewiſcht, in ſeiner verehelichten Sultane weiter nichts ſieht, als ihre zuverſichtliche Frech- heit und ihre aufgeſtuͤlpte Naſe. Mich duͤnkt, ich hoͤre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt! Ich leugne nicht, daß bey alle den Widerſpruͤ- chen, die uns dieſen Solimann ſo armſelig und veraͤchtlich machen, er nicht wirklich ſeyn koͤnnte? Es L l 3

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/283>, abgerufen am 22.11.2024.