Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Es giebt Menschen genug, die noch kläglichere
Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese
können auch, eben darum, keine Gegenstände
der poetischen Nachahmung seyn. Sie sind un-
ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;
es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst,
das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen der-
selben, zum Unterrichtenden machte, welches
jedoch Marmontel bey seinem Solimann zu thun
offenbar weit entfernt gewesen. Einem Cha-
rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem
fehlet die

Absicht. -- Mit Absicht handeln ist das, was
den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt;
mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist
das, was das Genie von den kleinen Künstlern
unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die
nur nachahmen um nachzuahmen, die sich mit
dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit
dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die
diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen, und
verlangen, daß auch wir uns mit dem eben so
geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches
aus dem Anschauen ihres kunstreichen aber absicht-
losen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es
ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun-
gen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine
Vorübungen; auch braucht es sie in größern
Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer

wär-

Es giebt Menſchen genug, die noch klaͤglichere
Widerſpruͤche in ſich vereinigen. Aber dieſe
koͤnnen auch, eben darum, keine Gegenſtaͤnde
der poetiſchen Nachahmung ſeyn. Sie ſind un-
ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;
es waͤre denn, daß man ihre Widerſpruͤche ſelbſt,
das Laͤcherliche oder die ungluͤcklichen Folgen der-
ſelben, zum Unterrichtenden machte, welches
jedoch Marmontel bey ſeinem Solimann zu thun
offenbar weit entfernt geweſen. Einem Cha-
rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem
fehlet die

Abſicht. — Mit Abſicht handeln iſt das, was
den Menſchen uͤber geringere Geſchoͤpfe erhebt;
mit Abſicht dichten, mit Abſicht nachahmen, iſt
das, was das Genie von den kleinen Kuͤnſtlern
unterſcheidet, die nur dichten um zu dichten, die
nur nachahmen um nachzuahmen, die ſich mit
dem geringen Vergnuͤgen befriedigen, das mit
dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden iſt, die
dieſe Mittel zu ihrer ganzen Abſicht machen, und
verlangen, daß auch wir uns mit dem eben ſo
geringen Vergnuͤgen befriedigen ſollen, welches
aus dem Anſchauen ihres kunſtreichen aber abſicht-
loſen Gebrauches ihrer Mittel entſpringet. Es
iſt wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun-
gen faͤngt das Genie an, zu lernen; es ſind ſeine
Voruͤbungen; auch braucht es ſie in groͤßern
Werken zu Fuͤllungen, zu Ruhepunkten unſerer

waͤr-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0284" n="270"/>
Es giebt Men&#x017F;chen genug, die noch kla&#x0364;glichere<lb/>
Wider&#x017F;pru&#x0364;che in &#x017F;ich vereinigen. Aber die&#x017F;e<lb/>
ko&#x0364;nnen auch, eben darum, keine Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
der poeti&#x017F;chen Nachahmung &#x017F;eyn. Sie &#x017F;ind un-<lb/>
ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;<lb/>
es wa&#x0364;re denn, daß man ihre Wider&#x017F;pru&#x0364;che &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
das La&#x0364;cherliche oder die unglu&#x0364;cklichen Folgen der-<lb/>
&#x017F;elben, zum Unterrichtenden machte, welches<lb/>
jedoch Marmontel bey &#x017F;einem Solimann zu thun<lb/>
offenbar weit entfernt gewe&#x017F;en. Einem Cha-<lb/>
rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem<lb/>
fehlet die</p><lb/>
        <p>Ab&#x017F;icht. &#x2014; Mit Ab&#x017F;icht handeln i&#x017F;t das, was<lb/>
den Men&#x017F;chen u&#x0364;ber geringere Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe erhebt;<lb/>
mit Ab&#x017F;icht dichten, mit Ab&#x017F;icht nachahmen, i&#x017F;t<lb/>
das, was das Genie von den kleinen Ku&#x0364;n&#x017F;tlern<lb/>
unter&#x017F;cheidet, die nur dichten um zu dichten, die<lb/>
nur nachahmen um nachzuahmen, die &#x017F;ich mit<lb/>
dem geringen Vergnu&#x0364;gen befriedigen, das mit<lb/>
dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden i&#x017F;t, die<lb/>
die&#x017F;e Mittel zu ihrer ganzen Ab&#x017F;icht machen, und<lb/>
verlangen, daß auch wir uns mit dem eben &#x017F;o<lb/>
geringen Vergnu&#x0364;gen befriedigen &#x017F;ollen, welches<lb/>
aus dem An&#x017F;chauen ihres kun&#x017F;treichen aber ab&#x017F;icht-<lb/>
lo&#x017F;en Gebrauches ihrer Mittel ent&#x017F;pringet. Es<lb/>
i&#x017F;t wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun-<lb/>
gen fa&#x0364;ngt das Genie an, zu lernen; es &#x017F;ind &#x017F;eine<lb/>
Voru&#x0364;bungen; auch braucht es &#x017F;ie in gro&#x0364;ßern<lb/>
Werken zu Fu&#x0364;llungen, zu Ruhepunkten un&#x017F;erer<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wa&#x0364;r-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0284] Es giebt Menſchen genug, die noch klaͤglichere Widerſpruͤche in ſich vereinigen. Aber dieſe koͤnnen auch, eben darum, keine Gegenſtaͤnde der poetiſchen Nachahmung ſeyn. Sie ſind un- ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es waͤre denn, daß man ihre Widerſpruͤche ſelbſt, das Laͤcherliche oder die ungluͤcklichen Folgen der- ſelben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bey ſeinem Solimann zu thun offenbar weit entfernt geweſen. Einem Cha- rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Abſicht. — Mit Abſicht handeln iſt das, was den Menſchen uͤber geringere Geſchoͤpfe erhebt; mit Abſicht dichten, mit Abſicht nachahmen, iſt das, was das Genie von den kleinen Kuͤnſtlern unterſcheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die ſich mit dem geringen Vergnuͤgen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden iſt, die dieſe Mittel zu ihrer ganzen Abſicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben ſo geringen Vergnuͤgen befriedigen ſollen, welches aus dem Anſchauen ihres kunſtreichen aber abſicht- loſen Gebrauches ihrer Mittel entſpringet. Es iſt wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun- gen faͤngt das Genie an, zu lernen; es ſind ſeine Voruͤbungen; auch braucht es ſie in groͤßern Werken zu Fuͤllungen, zu Ruhepunkten unſerer waͤr-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/284
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/284>, abgerufen am 01.11.2024.