bemerken, durch welches sich der Beyfall aus- drückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänz- lich ausbrechen läßt. Theils dachte ich: Vor- trefflich! man liebt hier die Moral; dieses Par- terr findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm erwer- ben, und ein Sokrates würde sie gern besuchen. Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeinten Maxi- men wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Antheil möge gehabt haben. Es ist nur Ein Athen gewesen, es wird nur Ein Athen bleiben, wo auch bey dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Per- son, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bey dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urtheilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch den- ken, daß er annimmt, ein Mensch könne das
Böse
bemerken, durch welches ſich der Beyfall aus- druͤckt, wenn ihn die Aufmerkſamkeit nicht gaͤnz- lich ausbrechen laͤßt. Theils dachte ich: Vor- trefflich! man liebt hier die Moral; dieſes Par- terr findet Geſchmack an Maximen; auf dieſer Buͤhne koͤnnte ſich ein Euripides Ruhm erwer- ben, und ein Sokrates wuͤrde ſie gern beſuchen. Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie ſchielend, wie falſch, wie anſtoͤßig dieſe vermeinten Maxi- men waͤren, und ich wuͤnſchte ſehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meiſten Antheil moͤge gehabt haben. Es iſt nur Ein Athen geweſen, es wird nur Ein Athen bleiben, wo auch bey dem Poͤbel das ſittliche Gefuͤhl ſo fein, ſo zaͤrtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauſpieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgeſtuͤrmet zu werden! Ich weiß wohl, die Geſinnungen muͤſſen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Per- ſon, welche ſie aͤußert, entſprechen; ſie koͤnnen alſo das Siegel der abſoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn ſie poetiſch wahr ſind, wenn wir geſtehen muͤſſen, daß dieſer Charakter, in dieſer Situation, bey dieſer Leidenſchaft, nicht anders als ſo habe urtheilen koͤnnen. Aber auch dieſe poetiſche Wahrheit muß ſich, auf einer andern Seite, der abſoluten wiederum naͤhern, und der Dichter muß nie ſo unphiloſophiſch den- ken, daß er annimmt, ein Menſch koͤnne das
Boͤſe
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bemerken, durch welches ſich der Beyfall aus-
druͤckt, wenn ihn die Aufmerkſamkeit nicht gaͤnz-
lich ausbrechen laͤßt. Theils dachte ich: Vor-
trefflich! man liebt hier die Moral; dieſes Par-
terr findet Geſchmack an Maximen; auf dieſer
Buͤhne koͤnnte ſich ein Euripides Ruhm erwer-
ben, und ein Sokrates wuͤrde ſie gern beſuchen.
Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie ſchielend,
wie falſch, wie anſtoͤßig dieſe vermeinten Maxi-
men waͤren, und ich wuͤnſchte ſehr, daß die
Mißbilligung an jenem Gemurmle den meiſten
Antheil moͤge gehabt haben. Es iſt nur Ein
Athen geweſen, es wird nur Ein Athen bleiben,
wo auch bey dem Poͤbel das ſittliche Gefuͤhl ſo
fein, ſo zaͤrtlich war, daß einer unlautern Moral
wegen, Schauſpieler und Dichter Gefahr liefen,
von dem Theater herabgeſtuͤrmet zu werden!
Ich weiß wohl, die Geſinnungen muͤſſen in dem
Drama dem angenommenen Charakter der Per-
ſon, welche ſie aͤußert, entſprechen; ſie koͤnnen
alſo das Siegel der abſoluten Wahrheit nicht
haben; genug, wenn ſie poetiſch wahr ſind,
wenn wir geſtehen muͤſſen, daß dieſer Charakter,
in dieſer Situation, bey dieſer Leidenſchaft,
nicht anders als ſo habe urtheilen koͤnnen. Aber
auch dieſe poetiſche Wahrheit muß ſich, auf einer
andern Seite, der abſoluten wiederum naͤhern,
und der Dichter muß nie ſo unphiloſophiſch den-
ken, daß er annimmt, ein Menſch koͤnne das
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/29>, abgerufen am 21.11.2024.
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