seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermö- gend sind, oder auf das Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewähret; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bey der moralischen Erzehlung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beyspiel giebt.
Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzehlung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und Gefälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er Recht so aufzuhö- ren, wie er aufhört. Die unbändige Roxe- lane wird durch nichts als Nachgeben gewon- nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, mögen wir sie doch immer für eine Närrinn und ihn für nichts bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhi- gen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich seyn, daß den Sultan seine blinde Gefälligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefälligkeit über das
Frauen-
ſeiner Fabel fließende Lehre, keinen Anſpruch; es gehet entweder auf die Leidenſchaften, welche der Verlauf und die Gluͤcksveraͤnderungen ſeiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermoͤ- gend ſind, oder auf das Vergnuͤgen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewaͤhret; und beides erfordert eine gewiſſe Vollſtaͤndigkeit der Handlung, ein gewiſſes befriedigendes Ende, welches wir bey der moraliſchen Erzehlung nicht vermiſſen, weil alle unſere Aufmerkſamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derſelben ein ſo einleuchtendes Beyſpiel giebt.
Wenn es alſo wahr iſt, daß Marmontel durch ſeine Erzehlung lehren wollte, die Liebe laſſe ſich nicht erzwingen, ſie muͤſſe durch Nachſicht und Gefaͤlligkeit, nicht durch Anſehen und Gewalt erhalten werden: ſo hatte er Recht ſo aufzuhoͤ- ren, wie er aufhoͤrt. Die unbaͤndige Roxe- lane wird durch nichts als Nachgeben gewon- nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans Charakter denken, iſt ihm ganz gleichguͤltig, moͤgen wir ſie doch immer fuͤr eine Naͤrrinn und ihn fuͤr nichts beſſers halten. Auch hat er gar nicht Urſache, uns wegen der Folge zu beruhi- gen; es mag uns immer noch ſo wahrſcheinlich ſeyn, daß den Sultan ſeine blinde Gefaͤlligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefaͤlligkeit uͤber das
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ſeiner Fabel fließende Lehre, keinen Anſpruch;
es gehet entweder auf die Leidenſchaften, welche
der Verlauf und die Gluͤcksveraͤnderungen ſeiner
Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermoͤ-
gend ſind, oder auf das Vergnuͤgen, welches
eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten
und Charaktere gewaͤhret; und beides erfordert
eine gewiſſe Vollſtaͤndigkeit der Handlung, ein
gewiſſes befriedigendes Ende, welches wir bey
der moraliſchen Erzehlung nicht vermiſſen, weil
alle unſere Aufmerkſamkeit auf den allgemeinen
Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall
derſelben ein ſo einleuchtendes Beyſpiel giebt.
Wenn es alſo wahr iſt, daß Marmontel durch
ſeine Erzehlung lehren wollte, die Liebe laſſe ſich
nicht erzwingen, ſie muͤſſe durch Nachſicht und
Gefaͤlligkeit, nicht durch Anſehen und Gewalt
erhalten werden: ſo hatte er Recht ſo aufzuhoͤ-
ren, wie er aufhoͤrt. Die unbaͤndige Roxe-
lane wird durch nichts als Nachgeben gewon-
nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans
Charakter denken, iſt ihm ganz gleichguͤltig,
moͤgen wir ſie doch immer fuͤr eine Naͤrrinn und
ihn fuͤr nichts beſſers halten. Auch hat er gar
nicht Urſache, uns wegen der Folge zu beruhi-
gen; es mag uns immer noch ſo wahrſcheinlich
ſeyn, daß den Sultan ſeine blinde Gefaͤlligkeit
bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/292>, abgerufen am 22.11.2024.
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