Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekümmert, ob es eine solche Gefälligkeit werth sey, oder nicht.
Allein, als Favart diese Erzehlung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes größten Theils verlohren gehe, und daß, wenn sie auch vollkommen er- halten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch nicht so groß und lebhaft sey, daß man dabey ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren könne. Ich meine das Vergnügen, welches uns eben so rein ge- dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewäh- ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten dieser, mehr, als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Werth oder Unwerth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit betrogen hat, oder uns wenigstens damit betrie- gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he- bet, muthwilligen Thorheiten den Anstrich hei- terer Weisheit giebt, und Laster und Ungereimt- heiten mit allen betriegerischen Reitzen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausstaffiret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfährt unsere Ueberlegung; das häßliche Gesicht, das wir so schön geschminkt sehen, wird für noch ein-
mal
Frauenzimmer uͤberhaupt vermag; er nahm alſo eines der wildeſten; unbekuͤmmert, ob es eine ſolche Gefaͤlligkeit werth ſey, oder nicht.
Allein, als Favart dieſe Erzehlung auf das Theater bringen wollte, ſo empfand er bald, daß durch die dramatiſche Form die Intuition des moraliſchen Satzes groͤßten Theils verlohren gehe, und daß, wenn ſie auch vollkommen er- halten werden koͤnne, das daraus erwachſende Vergnuͤgen doch nicht ſo groß und lebhaft ſey, daß man dabey ein anderes, welches dem Drama weſentlicher iſt, entbehren koͤnne. Ich meine das Vergnuͤgen, welches uns eben ſo rein ge- dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaͤh- ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten dieſer, mehr, als der Widerſpruch, in welchem wir ihren moraliſchen Werth oder Unwerth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß ſich dieſer entweder ſelbſt damit betrogen hat, oder uns wenigſtens damit betrie- gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he- bet, muthwilligen Thorheiten den Anſtrich hei- terer Weisheit giebt, und Laſter und Ungereimt- heiten mit allen betriegeriſchen Reitzen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausſtaffiret. Je mehr unſere erſten Blicke dadurch geblendet werden, deſto ſtrenger verfaͤhrt unſere Ueberlegung; das haͤßliche Geſicht, das wir ſo ſchoͤn geſchminkt ſehen, wird fuͤr noch ein-
mal
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Frauenzimmer uͤberhaupt vermag; er nahm alſo
eines der wildeſten; unbekuͤmmert, ob es eine
ſolche Gefaͤlligkeit werth ſey, oder nicht.
Allein, als Favart dieſe Erzehlung auf das
Theater bringen wollte, ſo empfand er bald, daß
durch die dramatiſche Form die Intuition des
moraliſchen Satzes groͤßten Theils verlohren
gehe, und daß, wenn ſie auch vollkommen er-
halten werden koͤnne, das daraus erwachſende
Vergnuͤgen doch nicht ſo groß und lebhaft ſey,
daß man dabey ein anderes, welches dem Drama
weſentlicher iſt, entbehren koͤnne. Ich meine
das Vergnuͤgen, welches uns eben ſo rein ge-
dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaͤh-
ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten
dieſer, mehr, als der Widerſpruch, in welchem
wir ihren moraliſchen Werth oder Unwerth mit
der Behandlung des Dichters finden; wenn
wir finden, daß ſich dieſer entweder ſelbſt damit
betrogen hat, oder uns wenigſtens damit betrie-
gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he-
bet, muthwilligen Thorheiten den Anſtrich hei-
terer Weisheit giebt, und Laſter und Ungereimt-
heiten mit allen betriegeriſchen Reitzen der Mode,
des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen
Welt ausſtaffiret. Je mehr unſere erſten Blicke
dadurch geblendet werden, deſto ſtrenger verfaͤhrt
unſere Ueberlegung; das haͤßliche Geſicht, das
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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