Zum Exempel, die Matrone von Ephesus. Man kennt dieses beissende Mährchen, und es ist unstreitig die bitterste Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nach erzehlt; und da es selbst in der schlechtesten Copie noch immer gefiel, so glaubte man, daß es ein eben so glücklicher Stoff auch für das Theater seyn müsse. Houdar de la Motte, und andere, mach- ten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefühl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh- lung ein nicht unangenehmes höhnisches Lächeln über die Vermessenheit der ehelichen Liebe er- weckt, wird in dem Drama eckel und gräßlich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bey weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein em- pfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich Ernst ist, das aber den Ver- suchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwäche dünkt uns die Schwäche des gan- zen Geschlechts zu seyn; wir fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie thut, glauben wir, würde ungefehr jede Frau gethan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber
ver-
dramatiſchen Form daruͤber verungluͤcken muͤſ- ſen.
Zum Exempel, die Matrone von Epheſus. Man kennt dieſes beiſſende Maͤhrchen, und es iſt unſtreitig die bitterſte Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtſinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tauſendmal nach erzehlt; und da es ſelbſt in der ſchlechteſten Copie noch immer gefiel, ſo glaubte man, daß es ein eben ſo gluͤcklicher Stoff auch fuͤr das Theater ſeyn muͤſſe. Houdar de la Motte, und andere, mach- ten den Verſuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefuͤhl, wie dieſer Verſuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh- lung ein nicht unangenehmes hoͤhniſches Laͤcheln uͤber die Vermeſſenheit der ehelichen Liebe er- weckt, wird in dem Drama eckel und graͤßlich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren ſich der Soldat gegen ſie bedienet, bey weitem nicht ſo fein und dringend und ſiegend, als wir ſie uns dort vorſtellen. Dort bilden wir uns ein em- pfindliches Weibchen ein, dem es mit ſeinem Schmerze wirklich Ernſt iſt, das aber den Ver- ſuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwaͤche duͤnkt uns die Schwaͤche des gan- zen Geſchlechts zu ſeyn; wir faſſen alſo keinen beſondern Haß gegen ſie; was ſie thut, glauben wir, wuͤrde ungefehr jede Frau gethan haben; ſelbſt ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber
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dramatiſchen Form daruͤber verungluͤcken muͤſ-
ſen.
Zum Exempel, die Matrone von Epheſus.
Man kennt dieſes beiſſende Maͤhrchen, und es
iſt unſtreitig die bitterſte Satyre, die jemals
gegen den weiblichen Leichtſinn gemacht worden.
Man hat es dem Petron tauſendmal nach erzehlt;
und da es ſelbſt in der ſchlechteſten Copie noch
immer gefiel, ſo glaubte man, daß es ein eben
ſo gluͤcklicher Stoff auch fuͤr das Theater ſeyn
muͤſſe. Houdar de la Motte, und andere, mach-
ten den Verſuch; aber ich berufe mich auf jedes
feinere Gefuͤhl, wie dieſer Verſuch ausgefallen.
Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh-
lung ein nicht unangenehmes hoͤhniſches Laͤcheln
uͤber die Vermeſſenheit der ehelichen Liebe er-
weckt, wird in dem Drama eckel und graͤßlich.
Wir finden hier die Ueberredungen, deren ſich
der Soldat gegen ſie bedienet, bey weitem nicht
ſo fein und dringend und ſiegend, als wir ſie uns
dort vorſtellen. Dort bilden wir uns ein em-
pfindliches Weibchen ein, dem es mit ſeinem
Schmerze wirklich Ernſt iſt, das aber den Ver-
ſuchungen und ihrem Temperamente unterliegt;
ihre Schwaͤche duͤnkt uns die Schwaͤche des gan-
zen Geſchlechts zu ſeyn; wir faſſen alſo keinen
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/296>, abgerufen am 22.11.2024.
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