vermittelst des todten Mannes zu retten, glau- ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beson- nenheit wegen, verzeihen zu müssen; oder viel- mehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des hämischen Erzehlers sey, der sein Mährchen gern mit einer recht giftigen Spitze schliessen wollen. Aber in dem Drama findet diese Vermuthung nicht Statt; was wir dort nur hören, daß es geschehen sey, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser ei- gener Sinn hier zu unwidersprechlich; bey der bloßen Möglichkeit ergötzte uns das Sinnreiche der That, bey ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Bühne den Rücken, und sagen mit dem Lykas beym Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus Impe- rator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem ad- figere cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bey ihrer Verführung ange- wendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib überhaupt, sondern ein vorzüglich leichtsinniges, lüderliches Weibs-
stück
N n 2
vermittelſt des todten Mannes zu retten, glau- ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beſon- nenheit wegen, verzeihen zu muͤſſen; oder viel- mehr eben das Sinnreiche dieſes Einfalls bringt uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zuſatz des haͤmiſchen Erzehlers ſey, der ſein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen Spitze ſchlieſſen wollen. Aber in dem Drama findet dieſe Vermuthung nicht Statt; was wir dort nur hoͤren, daß es geſchehen ſey, ſehen wir hier wirklich geſchehen; woran wir dort noch zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unſer ei- gener Sinn hier zu unwiderſprechlich; bey der bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche der That, bey ihrer Wirklichkeit ſehen wir bloß ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unſern Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt unſere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buͤhne den Ruͤcken, und ſagen mit dem Lykas beym Petron, auch ohne uns in dem beſondern Falle des Lykas zu befinden: Si juſtus Impe- rator fuiſſet, debuit patrisfamiliæ corpus in monimentum referre, mulierem ad- figere cruci. Und dieſe Strafe ſcheinet ſie uns um ſo viel mehr zu verdienen, je weniger Kunſt der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange- wendet; denn wir verdammen ſodann in ihr nicht das ſchwache Weib uͤberhaupt, ſondern ein vorzuͤglich leichtſinniges, luͤderliches Weibs-
ſtuͤck
N n 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0297"n="283"/>
vermittelſt des todten Mannes zu retten, glau-<lb/>
ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beſon-<lb/>
nenheit wegen, verzeihen zu muͤſſen; oder viel-<lb/>
mehr eben das Sinnreiche dieſes Einfalls bringt<lb/>
uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur<lb/>
ein bloßer Zuſatz des haͤmiſchen Erzehlers ſey,<lb/>
der ſein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen<lb/>
Spitze ſchlieſſen wollen. Aber in dem Drama<lb/>
findet dieſe Vermuthung nicht Statt; was wir<lb/>
dort nur hoͤren, daß es geſchehen ſey, ſehen wir<lb/>
hier wirklich geſchehen; woran wir dort noch<lb/>
zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unſer ei-<lb/>
gener Sinn hier zu unwiderſprechlich; bey der<lb/>
bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche<lb/>
der That, bey ihrer Wirklichkeit ſehen wir bloß<lb/>
ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unſern<lb/>
Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt<lb/>
unſere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der<lb/>
Buͤhne den Ruͤcken, und ſagen mit dem Lykas<lb/>
beym Petron, auch ohne uns in dem beſondern<lb/>
Falle des Lykas zu befinden: <cit><quote><hirendition="#aq">Si juſtus Impe-<lb/>
rator fuiſſet, debuit patrisfamiliæ corpus<lb/>
in monimentum referre, mulierem ad-<lb/>
figere cruci.</hi></quote></cit> Und dieſe Strafe ſcheinet ſie<lb/>
uns um ſo viel mehr zu verdienen, je weniger<lb/>
Kunſt der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange-<lb/>
wendet; denn wir verdammen ſodann in ihr<lb/>
nicht das ſchwache Weib uͤberhaupt, ſondern<lb/>
ein vorzuͤglich leichtſinniges, luͤderliches Weibs-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N n 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſtuͤck</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[283/0297]
vermittelſt des todten Mannes zu retten, glau-
ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beſon-
nenheit wegen, verzeihen zu muͤſſen; oder viel-
mehr eben das Sinnreiche dieſes Einfalls bringt
uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur
ein bloßer Zuſatz des haͤmiſchen Erzehlers ſey,
der ſein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen
Spitze ſchlieſſen wollen. Aber in dem Drama
findet dieſe Vermuthung nicht Statt; was wir
dort nur hoͤren, daß es geſchehen ſey, ſehen wir
hier wirklich geſchehen; woran wir dort noch
zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unſer ei-
gener Sinn hier zu unwiderſprechlich; bey der
bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche
der That, bey ihrer Wirklichkeit ſehen wir bloß
ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unſern
Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt
unſere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der
Buͤhne den Ruͤcken, und ſagen mit dem Lykas
beym Petron, auch ohne uns in dem beſondern
Falle des Lykas zu befinden: Si juſtus Impe-
rator fuiſſet, debuit patrisfamiliæ corpus
in monimentum referre, mulierem ad-
figere cruci. Und dieſe Strafe ſcheinet ſie
uns um ſo viel mehr zu verdienen, je weniger
Kunſt der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange-
wendet; denn wir verdammen ſodann in ihr
nicht das ſchwache Weib uͤberhaupt, ſondern
ein vorzuͤglich leichtſinniges, luͤderliches Weibs-
ſtuͤck
N n 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/297>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.