um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol- ler Lobeserhebungen an jenen darüber zurück- schrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, je- derzeit dem Stücke selbst vorgedruckt worden. Es wird darinn für eines von den vollkommen- sten Trauerspielen, für ein wahres Muster er- klärt, und wir können uns nunmehr ganz zu- frieden geben, daß das Stück des Euripides gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel- mehr, dieses ist nun nicht länger verlohren, Vol- taire hat es uns wieder hergestellt.
So sehr hierdurch nun auch Voltaire beru- higet seyn mußte, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht übereilen zu wollen; welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von sei- ner staatsklugen Verzögerung auch alle die Früchte, die er sich nur immer davon verspre- chen konnte. Merope fand den ausserordentlich- sten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich- ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr vorzüglich; sein Stuhl auf dem Theater ward beständig frey gelassen, wenn der Zulauf auch noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinction, deren in Frank- reich nur die Prinzen vom Geblüte gewürdiget werden. Corneille ward im Theater wie in sei-
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um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol- ler Lobeserhebungen an jenen daruͤber zuruͤck- ſchrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunſtrichtern zur Lehre und zur Warnung, je- derzeit dem Stuͤcke ſelbſt vorgedruckt worden. Es wird darinn fuͤr eines von den vollkommen- ſten Trauerſpielen, fuͤr ein wahres Muſter er- klaͤrt, und wir koͤnnen uns nunmehr ganz zu- frieden geben, daß das Stuͤck des Euripides gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel- mehr, dieſes iſt nun nicht laͤnger verlohren, Vol- taire hat es uns wieder hergeſtellt.
So ſehr hierdurch nun auch Voltaire beru- higet ſeyn mußte, ſo ſchien er ſich doch mit der Vorſtellung nicht uͤbereilen zu wollen; welche erſt im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von ſei- ner ſtaatsklugen Verzoͤgerung auch alle die Fruͤchte, die er ſich nur immer davon verſpre- chen konnte. Merope fand den auſſerordentlich- ſten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich- ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille ſehr vorzuͤglich; ſein Stuhl auf dem Theater ward beſtaͤndig frey gelaſſen, wenn der Zulauf auch noch ſo groß war, und wenn er kam, ſo ſtand jedermann auf; eine Diſtinction, deren in Frank- reich nur die Prinzen vom Gebluͤte gewuͤrdiget werden. Corneille ward im Theater wie in ſei-
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um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol-
ler Lobeserhebungen an jenen daruͤber zuruͤck-
ſchrieb, welches nachher, allen unberufenen
Kunſtrichtern zur Lehre und zur Warnung, je-
derzeit dem Stuͤcke ſelbſt vorgedruckt worden.
Es wird darinn fuͤr eines von den vollkommen-
ſten Trauerſpielen, fuͤr ein wahres Muſter er-
klaͤrt, und wir koͤnnen uns nunmehr ganz zu-
frieden geben, daß das Stuͤck des Euripides
gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel-
mehr, dieſes iſt nun nicht laͤnger verlohren, Vol-
taire hat es uns wieder hergeſtellt.
So ſehr hierdurch nun auch Voltaire beru-
higet ſeyn mußte, ſo ſchien er ſich doch mit der
Vorſtellung nicht uͤbereilen zu wollen; welche
erſt im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von ſei-
ner ſtaatsklugen Verzoͤgerung auch alle die
Fruͤchte, die er ſich nur immer davon verſpre-
chen konnte. Merope fand den auſſerordentlich-
ſten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich-
ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein
Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem
das Publikum auch dem großen Corneille ſehr
vorzuͤglich; ſein Stuhl auf dem Theater ward
beſtaͤndig frey gelaſſen, wenn der Zulauf auch
noch ſo groß war, und wenn er kam, ſo ſtand
jedermann auf; eine Diſtinction, deren in Frank-
reich nur die Prinzen vom Gebluͤte gewuͤrdiget
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/299>, abgerufen am 01.11.2024.
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