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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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nem Hause angesehen; und wenn der Hausherr
erscheinet, was ist billiger, als daß ihm die Gäste
ihre Höflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie-
derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr
ward begierig den Mann von Angesicht zu ken-
nen, den es so sehr bewundert hatte; wie die
Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn
zu sehen, und rufte, und schrie und lermte, bis
der Herr von Voltaire heraustreten, und sich
begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich
weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr
befremdet hätte, ob die kindische Neugierde des
Publikums, oder die eitele Gefälligkeit des
Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich-
ter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und
wie schwach muß der Eindruck seyn, den das
Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au-
genblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur
des Meisters dagegen zu halten? Das wahre
Meisterstück, dünkt mich, erfüllet uns so ganz
mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber
vergessen; daß wir es nicht als das Produkt
eines einzeln Wesens, sondern der allgemei-
nen Natur betrachten. Young sagt von der
Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen,
sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hy-
perbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die
Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so über-
schwenglich, daß es dem rohern Menschen zu

ver-

nem Hauſe angeſehen; und wenn der Hausherr
erſcheinet, was iſt billiger, als daß ihm die Gaͤſte
ihre Hoͤflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie-
derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr
ward begierig den Mann von Angeſicht zu ken-
nen, den es ſo ſehr bewundert hatte; wie die
Vorſtellung alſo zu Ende war, verlangte es ihn
zu ſehen, und rufte, und ſchrie und lermte, bis
der Herr von Voltaire heraustreten, und ſich
begaffen und beklatſchen laſſen mußte. Ich
weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr
befremdet haͤtte, ob die kindiſche Neugierde des
Publikums, oder die eitele Gefaͤlligkeit des
Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich-
ter ausſieht? Nicht wie andere Menſchen? Und
wie ſchwach muß der Eindruck ſeyn, den das
Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au-
genblicke auf nichts begieriger iſt, als die Figur
des Meiſters dagegen zu halten? Das wahre
Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤllet uns ſo ganz
mit ſich ſelbſt, daß wir des Urhebers daruͤber
vergeſſen; daß wir es nicht als das Produkt
eines einzeln Weſens, ſondern der allgemei-
nen Natur betrachten. Young ſagt von der
Sonne, es waͤre Suͤnde in den Heiden geweſen,
ſie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieſer Hy-
perbel liegt, ſo iſt es dieſer: der Glanz, die
Herrlichkeit der Sonne iſt ſo groß, ſo uͤber-
ſchwenglich, daß es dem rohern Menſchen zu

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[286/0300] nem Hauſe angeſehen; und wenn der Hausherr erſcheinet, was iſt billiger, als daß ihm die Gaͤſte ihre Hoͤflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie- derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr ward begierig den Mann von Angeſicht zu ken- nen, den es ſo ſehr bewundert hatte; wie die Vorſtellung alſo zu Ende war, verlangte es ihn zu ſehen, und rufte, und ſchrie und lermte, bis der Herr von Voltaire heraustreten, und ſich begaffen und beklatſchen laſſen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haͤtte, ob die kindiſche Neugierde des Publikums, oder die eitele Gefaͤlligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich- ter ausſieht? Nicht wie andere Menſchen? Und wie ſchwach muß der Eindruck ſeyn, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au- genblicke auf nichts begieriger iſt, als die Figur des Meiſters dagegen zu halten? Das wahre Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤllet uns ſo ganz mit ſich ſelbſt, daß wir des Urhebers daruͤber vergeſſen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Weſens, ſondern der allgemei- nen Natur betrachten. Young ſagt von der Sonne, es waͤre Suͤnde in den Heiden geweſen, ſie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieſer Hy- perbel liegt, ſo iſt es dieſer: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne iſt ſo groß, ſo uͤber- ſchwenglich, daß es dem rohern Menſchen zu ver-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/300>, abgerufen am 22.11.2024.