Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er
sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz
sey, wenn er sich also in der Bewunderung der
Sonne so sehr verlohr, daß er an den Schöpfer
der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die
wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverläßi-
ges von der Person und den Lebensumständen
des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner
Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen
an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an
seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol-
len es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung
dabey, es zu vergessen, daß Homer, der Schul-
meister in Smyrna, Homer, der blinde Bett-
ler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen
Werken so entzücket. Er bringt uns unter Göt-
ter und Helden; wir müßten in dieser Gesell-
schaft viel Langeweile haben, um uns nach dem
Thürsteher so genau zu erkundigen, der uns
hereingelassen. Die Täuschung muß sehr
schwach seyn, man muß wenig Natur, aber
desto mehr Künsteley empfinden, wenn man so
neugierig nach dem Künstler ist. So wenig
schmeichelhaft also im Grunde für einen Mann
von Genie das Verlangen des Publikums, ihn
von Person zu kennen, seyn müßte: (und was
hat er dabey auch wirklich vor dem ersten dem
besten Murmelthiere voraus, welches der Pöbel

gese-

verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er
ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz
ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der
Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer
der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die
wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi-
ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden
des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner
Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen
an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an
ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol-
len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung
dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul-
meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett-
ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen
Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt-
ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell-
ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem
Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns
hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr
ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber
deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo
neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig
ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann
von Genie das Verlangen des Publikums, ihn
von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was
hat er dabey auch wirklich vor dem erſten dem
beſten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbel

geſe-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0301" n="287"/>
verzeihen, daß es &#x017F;ehr natu&#x0364;rlich war, wenn er<lb/>
&#x017F;ich keine gro&#x0364;ßere Herrlichkeit, keinen Glanz<lb/>
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz<lb/>
&#x017F;ey, wenn er &#x017F;ich al&#x017F;o in der Bewunderung der<lb/>
Sonne &#x017F;o &#x017F;ehr verlohr, daß er an den Scho&#x0364;pfer<lb/>
der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die<lb/>
wahre Ur&#x017F;ache, warum wir &#x017F;o wenig Zuverla&#x0364;ßi-<lb/>
ges von der Per&#x017F;on und den Lebensum&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
des Homers wi&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t die Vortrefflichkeit &#x017F;einer<lb/>
Gedichte &#x017F;elb&#x017F;t. Wir &#x017F;tehen voller Er&#x017F;taunen<lb/>
an dem breiten rau&#x017F;chenden Flu&#x017F;&#x017F;e, ohne an<lb/>
&#x017F;eine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol-<lb/>
len es nicht wi&#x017F;&#x017F;en, wir finden un&#x017F;ere Rechnung<lb/>
dabey, es zu verge&#x017F;&#x017F;en, daß Homer, der Schul-<lb/>
mei&#x017F;ter in Smyrna, Homer, der blinde Bett-<lb/>
ler, eben der Homer i&#x017F;t, welcher uns in &#x017F;einen<lb/>
Werken &#x017F;o entzu&#x0364;cket. Er bringt uns unter Go&#x0364;t-<lb/>
ter und Helden; wir mu&#x0364;ßten in die&#x017F;er Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft viel Langeweile haben, um uns nach dem<lb/>
Thu&#x0364;r&#x017F;teher &#x017F;o genau zu erkundigen, der uns<lb/>
hereingela&#x017F;&#x017F;en. Die Ta&#x0364;u&#x017F;chung muß &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;chwach &#x017F;eyn, man muß wenig Natur, aber<lb/>
de&#x017F;to mehr Ku&#x0364;n&#x017F;teley empfinden, wenn man &#x017F;o<lb/>
neugierig nach dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler i&#x017F;t. So wenig<lb/>
&#x017F;chmeichelhaft al&#x017F;o im Grunde fu&#x0364;r einen Mann<lb/>
von Genie das Verlangen des Publikums, ihn<lb/>
von Per&#x017F;on zu kennen, &#x017F;eyn mu&#x0364;ßte: (und was<lb/>
hat er dabey auch wirklich vor dem er&#x017F;ten dem<lb/>
be&#x017F;ten Murmelthiere voraus, welches der Po&#x0364;bel<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge&#x017F;e-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0301] verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi- ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol- len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul- meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett- ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt- ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell- ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was hat er dabey auch wirklich vor dem erſten dem beſten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbel geſe-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/301
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/301>, abgerufen am 22.11.2024.