verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sey, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlohr, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverläßi- ges von der Person und den Lebensumständen des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol- len es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabey, es zu vergessen, daß Homer, der Schul- meister in Smyrna, Homer, der blinde Bett- ler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzücket. Er bringt uns unter Göt- ter und Helden; wir müßten in dieser Gesell- schaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thürsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach seyn, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künsteley empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde für einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, seyn müßte: (und was hat er dabey auch wirklich vor dem ersten dem besten Murmelthiere voraus, welches der Pöbel
gese-
verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi- ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol- len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul- meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett- ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt- ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell- ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was hat er dabey auch wirklich vor dem erſten dem beſten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbel
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verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er
ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz
ſey, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der
Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer
der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die
wahre Urſache, warum wir ſo wenig Zuverlaͤßi-
ges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden
des Homers wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner
Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen
an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an
ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol-
len es nicht wiſſen, wir finden unſere Rechnung
dabey, es zu vergeſſen, daß Homer, der Schul-
meiſter in Smyrna, Homer, der blinde Bett-
ler, eben der Homer iſt, welcher uns in ſeinen
Werken ſo entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt-
ter und Helden; wir muͤßten in dieſer Geſell-
ſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem
Thuͤrſteher ſo genau zu erkundigen, der uns
hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr
ſchwach ſeyn, man muß wenig Natur, aber
deſto mehr Kuͤnſteley empfinden, wenn man ſo
neugierig nach dem Kuͤnſtler iſt. So wenig
ſchmeichelhaft alſo im Grunde fuͤr einen Mann
von Genie das Verlangen des Publikums, ihn
von Perſon zu kennen, ſeyn muͤßte: (und was
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/301>, abgerufen am 22.11.2024.
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