heiten behandeln könne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und welche von diesen Arten die beste sey. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemnestra durch den Orest, der Inhalt des Stückes seyn sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben- heit der erstern, oder der zweyten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun über- legen, welcher hier der schicklichste und beste sey. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den Orest geschehen müsse. Nach der zwey- ten, darum nicht: weil sie zu gräßlich sey. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemnestra dadurch abermals gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klasse übrig.
Die dritte! Aber Aristoteles giebt ja der vierten den Vorzug; und nicht blos in einzeln Fällen, nach Maasgebung der Umstände, sondern überhaupt. Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, son- dern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben so schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener, in diese zu stossen: so ist es ja doch um die Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm, im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Ueberein- stimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dich- ter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf: wird es unter die-
sen
heiten behandeln koͤnne, ohne das Weſentliche, was die Geſchichte davon meldet, zu veraͤndern, und welche von dieſen Arten die beſte ſey. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemneſtra durch den Oreſt, der Inhalt des Stuͤckes ſeyn ſollte, ſo zeige ſich, nach dem Ariſtoteles, ein vierfacher Plan, dieſen Stoff zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben- heit der erſtern, oder der zweyten, oder der dritten, oder der vierten Klaſſe; der Dichter muͤſſe nun uͤber- legen, welcher hier der ſchicklichſte und beſte ſey. Dieſe Ermordung als eine Begebenheit der erſtern Klaſſe zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil ſie nach der Hiſtorie wirklich geſchehen muͤſſe, und durch den Oreſt geſchehen muͤſſe. Nach der zwey- ten, darum nicht: weil ſie zu graͤßlich ſey. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemneſtra dadurch abermals gerettet wuͤrde, die doch durchaus nicht gerettet werden ſolle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klaſſe uͤbrig.
Die dritte! Aber Ariſtoteles giebt ja der vierten den Vorzug; und nicht blos in einzeln Faͤllen, nach Maasgebung der Umſtaͤnde, ſondern uͤberhaupt. Der ehrliche Dacier macht es oͤftrer ſo: Ariſtoteles behaͤlt bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, ſon- dern weil er Ariſtoteles iſt. Indem er auf der einen Seite eine Bloͤße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben ſo ſchlimme. Wenn nun der Gegner die Beſonnenheit hat, anſtatt nach jener, in dieſe zu ſtoſſen: ſo iſt es ja doch um die Untruͤglichkeit ſeines Alten geſchehen, an der ihm, im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit ſelbſt zu liegen ſcheinet. Wenn ſo viel auf die Ueberein- ſtimmung der Geſchichte ankoͤmmt, wenn der Dich- ter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gaͤnzlich veraͤndern darf: wird es unter die-
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heiten behandeln koͤnne, ohne das Weſentliche, was
die Geſchichte davon meldet, zu veraͤndern, und
welche von dieſen Arten die beſte ſey. Wenn z. E.
die Ermordung der Klytemneſtra durch den Oreſt, der
Inhalt des Stuͤckes ſeyn ſollte, ſo zeige ſich, nach
dem Ariſtoteles, ein vierfacher Plan, dieſen Stoff
zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben-
heit der erſtern, oder der zweyten, oder der dritten,
oder der vierten Klaſſe; der Dichter muͤſſe nun uͤber-
legen, welcher hier der ſchicklichſte und beſte ſey.
Dieſe Ermordung als eine Begebenheit der erſtern
Klaſſe zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil
ſie nach der Hiſtorie wirklich geſchehen muͤſſe, und
durch den Oreſt geſchehen muͤſſe. Nach der zwey-
ten, darum nicht: weil ſie zu graͤßlich ſey. Nach
der vierten, darum nicht: weil Klytemneſtra dadurch
abermals gerettet wuͤrde, die doch durchaus nicht
gerettet werden ſolle. Folglich bleibe ihm nichts, als
die dritte Klaſſe uͤbrig.
Die dritte! Aber Ariſtoteles giebt ja der vierten
den Vorzug; und nicht blos in einzeln Faͤllen, nach
Maasgebung der Umſtaͤnde, ſondern uͤberhaupt.
Der ehrliche Dacier macht es oͤftrer ſo: Ariſtoteles
behaͤlt bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, ſon-
dern weil er Ariſtoteles iſt. Indem er auf der einen
Seite eine Bloͤße von ihm zu decken glaubt, macht
er ihm auf einer andern eine eben ſo ſchlimme. Wenn
nun der Gegner die Beſonnenheit hat, anſtatt nach
jener, in dieſe zu ſtoſſen: ſo iſt es ja doch um die
Untruͤglichkeit ſeines Alten geſchehen, an der ihm,
im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit ſelbſt
zu liegen ſcheinet. Wenn ſo viel auf die Ueberein-
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aber nie gaͤnzlich veraͤndern darf: wird es unter die-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/309>, abgerufen am 01.11.2024.
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