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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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sen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem
ersten oder zweyten Plane behandelt werden müs-
sen? Die Ermordung der Klytemnestra müßte ei-
gentlich nach dem zweyten vorgestellet werden; denn
Orestes hat sie wissentlich und vorsetzlich vollzogen:
der Dichter aber kann den dritten wählen, weil die-
ser tragischer ist, und der Geschichte doch nicht ge-
radezu widerspricht. Gut, es sey so: aber z. E.
Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan
kann hier der Dichter anders einschlagen, als den
zweyten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß
sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Ge-
schichte gleich allgemein bekannt. Was für eine
Rangordnung kann also unter diesen Planen Statt
finden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist,
kömmt in einem andern gar nicht in Betrachtung.
Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so
mache man die Anwendung, nicht auf historische,
sondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Gesetzt,
die Ermordung der Klytemnestra wäre von dieser
letztern Art, und es hätte den Dichter frey gestan-
den, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen,
sie mit oder ohne völlige Kenntniß vollziehen zu las-
sen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen,
um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie
daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten;
denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschähe
es blos aus Achtung gegen die Geschichte. Den
vierten also? Den also, welcher sich glücklich schließt?
Aber die besten Tragödien, sagt eben der Aristote-
les, der diesem vierten Plane den Vorzug vor
allen ertheilet, sind ja die, welche sich unglücklich
schliessen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den
Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben?
Bestätiget hat er ihn vielmehr.

Ham-

ſen nicht auch ſolche geben, die durchaus nach dem
erſten oder zweyten Plane behandelt werden muͤſ-
ſen? Die Ermordung der Klytemneſtra muͤßte ei-
gentlich nach dem zweyten vorgeſtellet werden; denn
Oreſtes hat ſie wiſſentlich und vorſetzlich vollzogen:
der Dichter aber kann den dritten waͤhlen, weil die-
ſer tragiſcher iſt, und der Geſchichte doch nicht ge-
radezu widerſpricht. Gut, es ſey ſo: aber z. E.
Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan
kann hier der Dichter anders einſchlagen, als den
zweyten? Denn ſie muß ſie umbringen, und ſie muß
ſie wiſſentlich umbringen; beides iſt aus der Ge-
ſchichte gleich allgemein bekannt. Was fuͤr eine
Rangordnung kann alſo unter dieſen Planen Statt
finden? Der in einem Falle der vorzuͤglichſte iſt,
koͤmmt in einem andern gar nicht in Betrachtung.
Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: ſo
mache man die Anwendung, nicht auf hiſtoriſche,
ſondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Geſetzt,
die Ermordung der Klytemneſtra waͤre von dieſer
letztern Art, und es haͤtte den Dichter frey geſtan-
den, ſie vollziehen oder nicht vollziehen zu laſſen,
ſie mit oder ohne voͤllige Kenntniß vollziehen zu laſ-
ſen. Welchen Plan haͤtte er dann waͤhlen muͤſſen,
um eine ſo viel als moͤglich vollkommene Tragoͤdie
daraus zu machen? Dacier ſagt ſelbſt: den vierten;
denn wenn er ihm den dritten vorziehe, ſo geſchaͤhe
es blos aus Achtung gegen die Geſchichte. Den
vierten alſo? Den alſo, welcher ſich gluͤcklich ſchließt?
Aber die beſten Tragoͤdien, ſagt eben der Ariſtote-
les, der dieſem vierten Plane den Vorzug vor
allen ertheilet, ſind ja die, welche ſich ungluͤcklich
ſchlieſſen? Und das iſt ja eben der Widerſpruch, den
Dacier heben wollte. Hat er ihn denn alſo gehoben?
Beſtaͤtiget hat er ihn vielmehr.

Ham-
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[296/0310] ſen nicht auch ſolche geben, die durchaus nach dem erſten oder zweyten Plane behandelt werden muͤſ- ſen? Die Ermordung der Klytemneſtra muͤßte ei- gentlich nach dem zweyten vorgeſtellet werden; denn Oreſtes hat ſie wiſſentlich und vorſetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten waͤhlen, weil die- ſer tragiſcher iſt, und der Geſchichte doch nicht ge- radezu widerſpricht. Gut, es ſey ſo: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einſchlagen, als den zweyten? Denn ſie muß ſie umbringen, und ſie muß ſie wiſſentlich umbringen; beides iſt aus der Ge- ſchichte gleich allgemein bekannt. Was fuͤr eine Rangordnung kann alſo unter dieſen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzuͤglichſte iſt, koͤmmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: ſo mache man die Anwendung, nicht auf hiſtoriſche, ſondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Geſetzt, die Ermordung der Klytemneſtra waͤre von dieſer letztern Art, und es haͤtte den Dichter frey geſtan- den, ſie vollziehen oder nicht vollziehen zu laſſen, ſie mit oder ohne voͤllige Kenntniß vollziehen zu laſ- ſen. Welchen Plan haͤtte er dann waͤhlen muͤſſen, um eine ſo viel als moͤglich vollkommene Tragoͤdie daraus zu machen? Dacier ſagt ſelbſt: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, ſo geſchaͤhe es blos aus Achtung gegen die Geſchichte. Den vierten alſo? Den alſo, welcher ſich gluͤcklich ſchließt? Aber die beſten Tragoͤdien, ſagt eben der Ariſtote- les, der dieſem vierten Plane den Vorzug vor allen ertheilet, ſind ja die, welche ſich ungluͤcklich ſchlieſſen? Und das iſt ja eben der Widerſpruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn alſo gehoben? Beſtaͤtiget hat er ihn vielmehr. Ham-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/310>, abgerufen am 22.11.2024.