dens, pathous. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen verderbliches und schmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun- den, Martern und dergleichen. Jene, der Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, muthos pe- plegmenos, von der einfachen, aplo, unter- scheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie machen die Handlung nur man- nichfaltiger, und dadurch schöner und interes- santer; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Lei- dens, pathe, muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt seyn; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glücks- wechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur ge- wisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichts- punkte, die verschiednen unter drey Hauptstücke gebrachten Theile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, wel-
ches
dens, παϑους. Was er unter den beiden erſtern verſteht, zeigen die Worte genugſam; unter dem dritten aber faßt er alles zuſammen, was den handelnden Perſonen verderbliches und ſchmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun- den, Martern und dergleichen. Jene, der Gluͤckswechſel und die Erkennung, ſind das, wodurch ſich die verwickelte Fabel, μυϑος πε- πλεγμενος, von der einfachen, ἁπλω, unter- ſcheidet; ſie ſind alſo keine weſentliche Stuͤcke der Fabel; ſie machen die Handlung nur man- nichfaltiger, und dadurch ſchoͤner und intereſ- ſanter; aber eine Handlung kann auch ohne ſie ihre voͤllige Einheit und Rundung und Groͤße haben. Ohne das dritte hingegen laͤßt ſich gar keine tragiſche Handlung denken; Arten des Lei- dens, παϑη, muß jedes Trauerſpiel haben, die Fabel deſſelben mag einfach oder verwickelt ſeyn; denn ſie gehen geradezu auf die Abſicht des Trauerſpiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Gluͤcks- wechſel, nicht jede Erkennung, ſondern nur ge- wiſſe Arten derſelben dieſe Abſicht erreichen, ſie in einem hoͤhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft ſind. Indem nun Ariſtoteles, aus dieſem Geſichts- punkte, die verſchiednen unter drey Hauptſtuͤcke gebrachten Theile der tragiſchen Handlung, jeden insbeſondere betrachtet, und unterſuchet, wel-
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dens, παϑους. Was er unter den beiden erſtern
verſteht, zeigen die Worte genugſam; unter
dem dritten aber faßt er alles zuſammen, was
den handelnden Perſonen verderbliches und
ſchmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun-
den, Martern und dergleichen. Jene, der
Gluͤckswechſel und die Erkennung, ſind das,
wodurch ſich die verwickelte Fabel, μυϑος πε-
πλεγμενος, von der einfachen, ἁπλω, unter-
ſcheidet; ſie ſind alſo keine weſentliche Stuͤcke
der Fabel; ſie machen die Handlung nur man-
nichfaltiger, und dadurch ſchoͤner und intereſ-
ſanter; aber eine Handlung kann auch ohne ſie
ihre voͤllige Einheit und Rundung und Groͤße
haben. Ohne das dritte hingegen laͤßt ſich gar
keine tragiſche Handlung denken; Arten des Lei-
dens, παϑη, muß jedes Trauerſpiel haben, die
Fabel deſſelben mag einfach oder verwickelt ſeyn;
denn ſie gehen geradezu auf die Abſicht des
Trauerſpiels, auf die Erregung des Schreckens
und Mitleids; dahingegen nicht jeder Gluͤcks-
wechſel, nicht jede Erkennung, ſondern nur ge-
wiſſe Arten derſelben dieſe Abſicht erreichen, ſie
in einem hoͤhern Grade erreichen helfen, andere
aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft ſind.
Indem nun Ariſtoteles, aus dieſem Geſichts-
punkte, die verſchiednen unter drey Hauptſtuͤcke
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/314>, abgerufen am 22.11.2024.
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