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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen gesetz-
ten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristo-
teles, daß die beste Tragödie nichts als die Vor-
stellung einer Veränderung des Glückes in Un-
glück sey? Oder, wo sagt er, daß die beste Tra-
gödie auf nichts, als auf die Erkennung dessen,
hinauslaufen müsse, an dem eine grausam wider-
natürliche That verübet werden sollen? Er sagt
weder das eine noch das andere von der Tragödie
überhaupt, sondern jedes von einem besondern
Theile derselben, welcher dem Ende mehr oder
weniger nahe liegen, welcher auf den andern
mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar
keinen, haben kann. Der Glückswechsel kann
sich mitten in dem Stücke eräugnen, und wenn
er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er
doch nicht selbst das Ende: so ist z. E. der Glücks-
wechsel im Oedip, der sich bereits zum Schlusse
des vierten Akts äußert, zu dem aber noch man-
cherley Leiden (pathe) hinzukommen, mit welchen
sich eigentlich das Stück schliesset. Gleichfalls
kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Voll-
ziehung gelangen sollen, und in dem nehmlichen
Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben
werden, so daß durch diese Erkennung das Stück
nichts weniger als geendet ist; wie in der zwey-
ten Iphigenia des Euripides, wo Orestes, auch
schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester,
die ihn außuopfern im Begriffe ist, erkannt

wird.

lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen geſetz-
ten Eigenſchaften haben kann? Wo ſagt Ariſto-
teles, daß die beſte Tragoͤdie nichts als die Vor-
ſtellung einer Veraͤnderung des Gluͤckes in Un-
gluͤck ſey? Oder, wo ſagt er, daß die beſte Tra-
goͤdie auf nichts, als auf die Erkennung deſſen,
hinauslaufen muͤſſe, an dem eine grauſam wider-
natuͤrliche That veruͤbet werden ſollen? Er ſagt
weder das eine noch das andere von der Tragoͤdie
uͤberhaupt, ſondern jedes von einem beſondern
Theile derſelben, welcher dem Ende mehr oder
weniger nahe liegen, welcher auf den andern
mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar
keinen, haben kann. Der Gluͤckswechſel kann
ſich mitten in dem Stuͤcke eraͤugnen, und wenn
er ſchon bis an das Ende fortdauert, ſo macht er
doch nicht ſelbſt das Ende: ſo iſt z. E. der Gluͤcks-
wechſel im Oedip, der ſich bereits zum Schluſſe
des vierten Akts aͤußert, zu dem aber noch man-
cherley Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen
ſich eigentlich das Stuͤck ſchlieſſet. Gleichfalls
kann das Leiden mitten in dem Stuͤcke zur Voll-
ziehung gelangen ſollen, und in dem nehmlichen
Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben
werden, ſo daß durch dieſe Erkennung das Stuͤck
nichts weniger als geendet iſt; wie in der zwey-
ten Iphigenia des Euripides, wo Oreſtes, auch
ſchon in dem vierten Akte, von ſeiner Schweſter,
die ihn auſzuopfern im Begriffe iſt, erkannt

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[302/0316] lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen geſetz- ten Eigenſchaften haben kann? Wo ſagt Ariſto- teles, daß die beſte Tragoͤdie nichts als die Vor- ſtellung einer Veraͤnderung des Gluͤckes in Un- gluͤck ſey? Oder, wo ſagt er, daß die beſte Tra- goͤdie auf nichts, als auf die Erkennung deſſen, hinauslaufen muͤſſe, an dem eine grauſam wider- natuͤrliche That veruͤbet werden ſollen? Er ſagt weder das eine noch das andere von der Tragoͤdie uͤberhaupt, ſondern jedes von einem beſondern Theile derſelben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Gluͤckswechſel kann ſich mitten in dem Stuͤcke eraͤugnen, und wenn er ſchon bis an das Ende fortdauert, ſo macht er doch nicht ſelbſt das Ende: ſo iſt z. E. der Gluͤcks- wechſel im Oedip, der ſich bereits zum Schluſſe des vierten Akts aͤußert, zu dem aber noch man- cherley Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen ſich eigentlich das Stuͤck ſchlieſſet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stuͤcke zur Voll- ziehung gelangen ſollen, und in dem nehmlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, ſo daß durch dieſe Erkennung das Stuͤck nichts weniger als geendet iſt; wie in der zwey- ten Iphigenia des Euripides, wo Oreſtes, auch ſchon in dem vierten Akte, von ſeiner Schweſter, die ihn auſzuopfern im Begriffe iſt, erkannt wird.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/316>, abgerufen am 22.11.2024.