Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern un- ter den Italienern sey, welcher Muth und Kraft genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zärt- lichste Interesse aus der reinsten Tugend ent- springe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natür- lichsten Mitteln, welche die Umstände zur Ver- wicklung darbieten, von den unstudierten wah- ren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Par- terr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hören will; (*) wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbun- den hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich für den
Sohn
(*)Je n'ai pu me servir come Mr. Maffei d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre.
Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un- ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt- lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent- ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt, daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr- lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver- wicklung darbieten, von den unſtudierten wah- ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par- terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; (*) wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun- den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den
Sohn
(*)Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un anneau, parce que depuis l’anneau royal dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres, cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0338"n="324"/><p>Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo<lb/>
hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un-<lb/>
ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft<lb/>
genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie<lb/>
zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf<lb/>
der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt-<lb/>
lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent-<lb/>ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt,<lb/>
daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm<lb/>
nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr-<lb/>
lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver-<lb/>
wicklung darbieten, von den unſtudierten wah-<lb/>
ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund<lb/>
legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par-<lb/>
terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit<lb/>
dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in<lb/>ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem<lb/>
Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; <noteplace="foot"n="(*)"><cit><quote><hirendition="#aq">Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un<lb/>
anneau, parce que depuis l’anneau royal<lb/>
dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres,<lb/>
cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.</hi></quote></cit></note><lb/>
wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu<lb/>
jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten<lb/>
Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen,<lb/>
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze<lb/>
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,<lb/>
eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun-<lb/>
den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht<lb/>
will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Sohn</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[324/0338]
Voltaire rechne es dem Marquis immer ſo
hoch an, als er will, daß er einer der erſtern un-
ter den Italienern ſey, welcher Muth und Kraft
genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie
zu ſchreiben, in welcher die ganze Intrigue auf
der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt-
lichſte Intereſſe aus der reinſten Tugend ent-
ſpringe. Er beklage es, ſo ſehr als ihm beliebt,
daß die falſche Delicateſſe ſeiner Nation ihm
nicht erlauben wollen, von den leichteſten natuͤr-
lichſten Mitteln, welche die Umſtaͤnde zur Ver-
wicklung darbieten, von den unſtudierten wah-
ren Reden, welche die Sache ſelbſt in den Mund
legt, Gebrauch zu machen. Das Pariſer Par-
terr hat unſtreitig ſehr Unrecht, wenn es ſeit
dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in
ſeinen Satiren ſpottet, durchaus von keinem
Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; (*)
wenn es ſeine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem aller unſchicklichſten
Mittel der Erkennung ſeine Zuflucht zu nehmen,
als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze
Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung,
eine Art von Verſicherung der Perſon, verbun-
den hat. Es hat ſehr Unrecht, wenn es nicht
will, daß ein junger Menſch, der ſich fuͤr den
Sohn
(*) Je n’ai pu me ſervir come Mr. Maffei d’un
anneau, parce que depuis l’anneau royal
dont Boileau ſe moque dans ſes ſatyres,
cela ſemblerait trop petit ſur notre theatre.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/338>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.