rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum eben dieses verlan- gen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publi- kum zu so einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freymüthigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu sagen, daß er hier und an meh- rern Stellen luxurire, und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrau- chet worden. Bey dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich ge- schickt; bey dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon es das Bild seyn soll, triumphiret, und müßte nach der Gesinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich- tigere, und auf das Ganze noch größern Ein- fluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten Le- bensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß
aber
rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit iſt? Sollte nicht jedes Publikum eben dieſes verlan- gen? eben dieſes meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient dieſen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italieniſche Publi- kum zu ſo einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freymuͤthigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu ſagen, daß er hier und an meh- rern Stellen luxurire, und ſeinen eignen Kopf durch die Tapete ſtecke? Auch unerwogen, daß ausfuͤhrliche Gleichniſſe uͤberhaupt ſchwerlich eine ſchickliche Stelle in dem Trauerſpiele finden koͤnnen, haͤtte er anmerken ſollen, daß jenes Virgiliſche von dem Maffei aͤußerſt gemißbrau- chet worden. Bey dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu iſt es eigentlich ge- ſchickt; bey dem Maffei aber iſt es in dem Munde desjenigen, der uͤber das Ungluͤck, wovon es das Bild ſeyn ſoll, triumphiret, und muͤßte nach der Geſinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich- tigere, und auf das Ganze noch groͤßern Ein- fluß habende Fehler ſcheuet ſich Voltaire nicht, lieber dem Geſchmacke der Italiener uͤberhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Laſt zu legen, und duͤnkt ſich von der allerfeinſten Le- bensart, wenn er den Maffei damit troͤſtet, daß es ſeine ganze Nation nicht beſſer verſtehe, als er; daß ſeine Fehler die Fehler ſeiner Nation waͤren; daß
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rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit iſt?
Sollte nicht jedes Publikum eben dieſes verlan-
gen? eben dieſes meinen? Ein Publikum, das
anders richtet, verdient dieſen Namen nicht:
und muß Voltaire das ganze italieniſche Publi-
kum zu ſo einem Publiko machen wollen, weil
er nicht Freymuͤthigkeit genug hat, dem Dichter
gerade heraus zu ſagen, daß er hier und an meh-
rern Stellen luxurire, und ſeinen eignen Kopf
durch die Tapete ſtecke? Auch unerwogen, daß
ausfuͤhrliche Gleichniſſe uͤberhaupt ſchwerlich
eine ſchickliche Stelle in dem Trauerſpiele finden
koͤnnen, haͤtte er anmerken ſollen, daß jenes
Virgiliſche von dem Maffei aͤußerſt gemißbrau-
chet worden. Bey dem Virgil vermehret es
das Mitleiden, und dazu iſt es eigentlich ge-
ſchickt; bey dem Maffei aber iſt es in dem Munde
desjenigen, der uͤber das Ungluͤck, wovon es
das Bild ſeyn ſoll, triumphiret, und muͤßte
nach der Geſinnung des Polyphonts, mehr
Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich-
tigere, und auf das Ganze noch groͤßern Ein-
fluß habende Fehler ſcheuet ſich Voltaire nicht,
lieber dem Geſchmacke der Italiener uͤberhaupt,
als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Laſt zu
legen, und duͤnkt ſich von der allerfeinſten Le-
bensart, wenn er den Maffei damit troͤſtet, daß es
ſeine ganze Nation nicht beſſer verſtehe, als er; daß
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/341>, abgerufen am 22.11.2024.
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