Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

daß es einem Menschen, der nur einen Funken
von Verstande hat, einkommen könne, wirklich
so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was
hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen
Eräugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-
chen würden, als auf die Vorstellung dieses Ak-
tes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf
die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch
lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfo-
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-
tet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber
nicht ihren Geist. Denn was er an Einem Tage
thun läßt, kann zwar an Einem Tage gethan
werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es
an Einem Tage thun. Es ist an der physischen
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die
moralische dazu kommen, deren Verletzung allen
und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Ver-
letzung der erstern, ob sie gleich meistens eine
Unmöglichkeit involviret, dennoch nicht immer
so allgemein anstößig ist, weil diese Unmöglich-
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.
in einem Stücke, von einem Orte zum andern ge-
reiset wird, und diese Reise allein mehr als einen
ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen
merklich, welche den Abstand des einen Ortes
von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht
alle Menschen die geographischen Distanzen;

aber

daß es einem Menſchen, der nur einen Funken
von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich
ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was
hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen
Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-
chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak-
tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf
die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch
lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo-
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-
tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber
nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage
thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan
werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es
an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die
moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen
und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver-
letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine
Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer
ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich-
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.
in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge-
reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen
ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen
merklich, welche den Abſtand des einen Ortes
von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht
alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen;

aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0370" n="356"/>
daß es einem Men&#x017F;chen, der nur einen Funken<lb/>
von Ver&#x017F;tande hat, einkommen ko&#x0364;nne, wirklich<lb/>
&#x017F;o zu handeln, widerlegt &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t. Was<lb/>
hilft es nun al&#x017F;o dem Dichter, daß die be&#x017F;ondern<lb/>
Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen<lb/>
Era&#x0364;ugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau-<lb/>
chen wu&#x0364;rden, als auf die Vor&#x017F;tellung die&#x017F;es Ak-<lb/>
tes geht; und daß die&#x017F;e Zeit mit der, welche auf<lb/>
die Zwi&#x017F;chenakte gerechnet werden muß, noch<lb/>
lange keinen vo&#x0364;lligen Umlauf der Sonne erfo-<lb/>
dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach-<lb/>
tet? Die Worte die&#x017F;er Regel hat er erfu&#x0364;llt, aber<lb/>
nicht ihren Gei&#x017F;t. Denn was er an Einem Tage<lb/>
thun la&#x0364;ßt, kann zwar an Einem Tage gethan<lb/>
werden, aber kein vernu&#x0364;nftiger Men&#x017F;ch wird es<lb/>
an Einem Tage thun. Es i&#x017F;t an der phy&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die<lb/>
morali&#x017F;che dazu kommen, deren Verletzung allen<lb/>
und jeden empfindlich i&#x017F;t, an&#x017F;tatt daß die Ver-<lb/>
letzung der er&#x017F;tern, ob &#x017F;ie gleich mei&#x017F;tens eine<lb/>
Unmo&#x0364;glichkeit involviret, dennoch nicht immer<lb/>
&#x017F;o allgemein an&#x017F;to&#x0364;ßig i&#x017F;t, weil die&#x017F;e Unmo&#x0364;glich-<lb/>
keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E.<lb/>
in einem Stu&#x0364;cke, von einem Orte zum andern ge-<lb/>
rei&#x017F;et wird, und die&#x017F;e Rei&#x017F;e allein mehr als einen<lb/>
ganzen Tag erfodert, &#x017F;o i&#x017F;t der Fehler nur denen<lb/>
merklich, welche den Ab&#x017F;tand des einen Ortes<lb/>
von dem andern wi&#x017F;&#x017F;en. Nun aber wi&#x017F;&#x017F;en nicht<lb/>
alle Men&#x017F;chen die geographi&#x017F;chen Di&#x017F;tanzen;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">aber</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0370] daß es einem Menſchen, der nur einen Funken von Verſtande hat, einkommen koͤnne, wirklich ſo zu handeln, widerlegt ſich von ſelbſt. Was hilft es nun alſo dem Dichter, daß die beſondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau- chen wuͤrden, als auf die Vorſtellung dieſes Ak- tes geht; und daß dieſe Zeit mit der, welche auf die Zwiſchenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo- dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach- tet? Die Worte dieſer Regel hat er erfuͤllt, aber nicht ihren Geiſt. Denn was er an Einem Tage thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan werden, aber kein vernuͤnftiger Menſch wird es an Einem Tage thun. Es iſt an der phyſiſchen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moraliſche dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich iſt, anſtatt daß die Ver- letzung der erſtern, ob ſie gleich meiſtens eine Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer ſo allgemein anſtoͤßig iſt, weil dieſe Unmoͤglich- keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge- reiſet wird, und dieſe Reiſe allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, ſo iſt der Fehler nur denen merklich, welche den Abſtand des einen Ortes von dem andern wiſſen. Nun aber wiſſen nicht alle Menſchen die geographiſchen Diſtanzen; aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/370
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/370>, abgerufen am 22.11.2024.