4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge- hen seiner Personen oft gar nicht: -- und Vol- taire motivirt es eben so oft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abge- gangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Ursache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Kö- niginn zu versammeln; so müßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hören. Da wir aber nichts davon zu hören bekommen, so ist sein Vorgeben ein schülerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Lügen, die dem Knaben einfällt. Er geht nicht ab, um das zu thun, was er sagt, sondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu können, die der Poet durch keinen andern ertheilen zu lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feyerlichen Verbindung schon alles bereit sey; und so geht
er
4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge- hen ſeiner Perſonen oft gar nicht: — und Vol- taire motivirt es eben ſo oft falſch; welches wohl noch ſchlimmer iſt. Es iſt nicht genug, daß eine Perſon ſagt, warum ſie koͤmmt, man muß auch aus der Verbindung einſehen, daß ſie darum kommen muͤſſen. Es iſt nicht genug, daß ſie ſagt, warum ſie abgeht, man muß auch in dem Folgenden ſehen, daß ſie wirklich darum abge- gangen iſt. Denn ſonſt iſt das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Urſache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts abgeht, um, wie er ſagt, die Freunde der Koͤ- niginn zu verſammeln; ſo muͤßte man von dieſen Freunden und von dieſer ihrer Verſammlung auch hernach etwas hoͤren. Da wir aber nichts davon zu hoͤren bekommen, ſo iſt ſein Vorgeben ein ſchuͤlerhaftes Peto veniam exeundi, mit der erſten beſten Luͤgen, die dem Knaben einfaͤllt. Er geht nicht ab, um das zu thun, was er ſagt, ſondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu koͤnnen, die der Poet durch keinen andern ertheilen zu laſſen wußte. Noch ungeſchickter geht Voltaire mit dem Schluſſe ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten ſagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feyerlichen Verbindung ſchon alles bereit ſey; und ſo geht
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4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge-
hen ſeiner Perſonen oft gar nicht: — und Vol-
taire motivirt es eben ſo oft falſch; welches wohl
noch ſchlimmer iſt. Es iſt nicht genug, daß eine
Perſon ſagt, warum ſie koͤmmt, man muß auch
aus der Verbindung einſehen, daß ſie darum
kommen muͤſſen. Es iſt nicht genug, daß ſie
ſagt, warum ſie abgeht, man muß auch in dem
Folgenden ſehen, daß ſie wirklich darum abge-
gangen iſt. Denn ſonſt iſt das, was ihr der
Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer
Vorwand, und keine Urſache. Wenn z. E.
Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts
abgeht, um, wie er ſagt, die Freunde der Koͤ-
niginn zu verſammeln; ſo muͤßte man von dieſen
Freunden und von dieſer ihrer Verſammlung
auch hernach etwas hoͤren. Da wir aber nichts
davon zu hoͤren bekommen, ſo iſt ſein Vorgeben
ein ſchuͤlerhaftes Peto veniam exeundi, mit
der erſten beſten Luͤgen, die dem Knaben einfaͤllt.
Er geht nicht ab, um das zu thun, was er ſagt,
ſondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer
Nachricht wiederkommen zu koͤnnen, die der
Poet durch keinen andern ertheilen zu laſſen
wußte. Noch ungeſchickter geht Voltaire mit
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/373>, abgerufen am 22.11.2024.
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