pflegt; so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und eben denselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben densel- ben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neunmalen, siebenmal weit mehr dabey gewannen, als verloren. Denn sie lies- sen sich diesen Zwang einen Anlaß seyn, die Handlung selbst so zu simplifiiren, alles Ueber- flüßige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandtheile ge- bracht, nichts als ein Ideal von dieser Hand- lung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den we- nigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte.
Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intriguen der spanischen Stücke schon verwöhnt waren, ehe sie die grie- chische Simplicität kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung unumgängliche Er- fordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur immer der Gebrauch
des
pflegt; ſo konnten ſie faſt nicht anders, als den Ort auf einen und eben denſelben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben denſel- ben Tag einſchraͤnken. Dieſer Einſchraͤnkung unterwarfen ſie ſich denn auch bona fide; aber mit einer Biegſamkeit, mit einem Verſtande, daß ſie, unter neunmalen, ſiebenmal weit mehr dabey gewannen, als verloren. Denn ſie lieſ- ſen ſich dieſen Zwang einen Anlaß ſeyn, die Handlung ſelbſt ſo zu ſimplifiiren, alles Ueber- fluͤßige ſo ſorgfaͤltig von ihr abzuſondern, daß ſie, auf ihre weſentlichſten Beſtandtheile ge- bracht, nichts als ein Ideal von dieſer Hand- lung ward, welches ſich gerade in derjenigen Form am gluͤcklichſten ausbildete, die den we- nigſten Zuſatz von Umſtaͤnden der Zeit und des Ortes verlangte.
Die Franzoſen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geſchmack fanden, die durch die wilden Intriguen der ſpaniſchen Stuͤcke ſchon verwoͤhnt waren, ehe ſie die grie- chiſche Simplicitaͤt kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, ſondern als fuͤr ſich zur Vorſtellung einer Handlung unumgaͤngliche Er- forderniſſe, welche ſie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpaſſen muͤßten, als es nur immer der Gebrauch
des
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pflegt; ſo konnten ſie faſt nicht anders, als den
Ort auf einen und eben denſelben individuellen
Platz, und die Zeit auf einen und eben denſel-
ben Tag einſchraͤnken. Dieſer Einſchraͤnkung
unterwarfen ſie ſich denn auch bona fide; aber
mit einer Biegſamkeit, mit einem Verſtande,
daß ſie, unter neunmalen, ſiebenmal weit mehr
dabey gewannen, als verloren. Denn ſie lieſ-
ſen ſich dieſen Zwang einen Anlaß ſeyn, die
Handlung ſelbſt ſo zu ſimplifiiren, alles Ueber-
fluͤßige ſo ſorgfaͤltig von ihr abzuſondern, daß
ſie, auf ihre weſentlichſten Beſtandtheile ge-
bracht, nichts als ein Ideal von dieſer Hand-
lung ward, welches ſich gerade in derjenigen
Form am gluͤcklichſten ausbildete, die den we-
nigſten Zuſatz von Umſtaͤnden der Zeit und des
Ortes verlangte.
Die Franzoſen hingegen, die an der wahren
Einheit der Handlung keinen Geſchmack fanden,
die durch die wilden Intriguen der ſpaniſchen
Stuͤcke ſchon verwoͤhnt waren, ehe ſie die grie-
chiſche Simplicitaͤt kennen lernten, betrachteten
die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als
Folgen jener Einheit, ſondern als fuͤr ſich zur
Vorſtellung einer Handlung unumgaͤngliche Er-
forderniſſe, welche ſie auch ihren reichern und
verwickeltern Handlungen in eben der Strenge
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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