Hamburgische Dramaturgie. Sieben und vierzigstes Stück.
Den 9ten October, 1767.
Und wie das? -- Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach seinen Tha- ten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in der Hitze der Leiden- schaft ausgestossen, für seinen moralischen Cha- rakter wenig, eine überlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl Recht ha- ben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr abwesender Sohn vielleicht sey, ihr Mitleid über alle Unglückliche erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ih- rem Schmerze betäubt dahin sinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt höret,
wieder
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Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und vierzigſtes Stuͤck.
Den 9ten October, 1767.
Und wie das? — Wenn es unſtreitig iſt, daß man den Menſchen mehr nach ſeinen Tha- ten, als nach ſeinen Reden richten muß; daß ein raſches Wort, in der Hitze der Leiden- ſchaft ausgeſtoſſen, fuͤr ſeinen moraliſchen Cha- rakter wenig, eine uͤberlegte kalte Handlung aber alles beweiſet: ſo werde ich wohl Recht ha- ben. Merope, die ſich in der Ungewißheit, in welcher ſie von dem Schickſale ihres Sohnes iſt, dem bangſten Kummer uͤberlaͤßt, die immer das Schrecklichſte beſorgt, und in der Vorſtellung, wie ungluͤcklich ihr abweſender Sohn vielleicht ſey, ihr Mitleid uͤber alle Ungluͤckliche erſtrecket: iſt das ſchoͤne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da ſie den Verluſt des Gegenſtandes ihrer Zaͤrtlichkeit erfaͤhrt, von ih- rem Schmerze betaͤubt dahin ſinkt, und ploͤtzlich, ſobald ſie den Moͤrder in ihrer Gewalt hoͤret,
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Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und vierzigſtes Stuͤck.
Den 9ten October, 1767.
Und wie das? — Wenn es unſtreitig iſt, daß
man den Menſchen mehr nach ſeinen Tha-
ten, als nach ſeinen Reden richten muß;
daß ein raſches Wort, in der Hitze der Leiden-
ſchaft ausgeſtoſſen, fuͤr ſeinen moraliſchen Cha-
rakter wenig, eine uͤberlegte kalte Handlung
aber alles beweiſet: ſo werde ich wohl Recht ha-
ben. Merope, die ſich in der Ungewißheit, in
welcher ſie von dem Schickſale ihres Sohnes iſt,
dem bangſten Kummer uͤberlaͤßt, die immer das
Schrecklichſte beſorgt, und in der Vorſtellung,
wie ungluͤcklich ihr abweſender Sohn vielleicht
ſey, ihr Mitleid uͤber alle Ungluͤckliche erſtrecket:
iſt das ſchoͤne Ideal einer Mutter. Merope,
die in dem Augenblicke, da ſie den Verluſt des
Gegenſtandes ihrer Zaͤrtlichkeit erfaͤhrt, von ih-
rem Schmerze betaͤubt dahin ſinkt, und ploͤtzlich,
ſobald ſie den Moͤrder in ihrer Gewalt hoͤret,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [369]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/383>, abgerufen am 22.11.2024.
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