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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der
Feder gut zu machen ist. Einen wollüstigen
Schößling schneidet der Gärtner in der Stille
ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten,
der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen
Augenblick annehmen, -- es ist wahr, es heißt
sehr viel annehmen, -- daß Euripides vielleicht
eben so viel Einsicht, eben so viel Geschmack
könne gehabt haben, als ihr; und es wundert
euch um so viel mehr, wie er bey dieser großen
Einsicht, bey diesem feinen Geschmacke, dennoch
einen so groben Fehler begehen können: so tretet
zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler
nennt, aus meinem Standorte. Euripides
sahe es so gut, als wir, daß z. E. sein Jon ohne
den Prolog bestehen könne; daß er, ohne den-
selben, ein Stück sey, welches die Ungewißheit
und Erwartung des Zuschauers, bis an das
Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewiß-
heit und Erwartung war ihm nichts gelegen.
Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fünf-
ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreusa sey:
so ist es für ihn nicht ihr Sohn, sondern ein
Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten
Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für
ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher sich
Jon in dem vierten Akte rächen will, sondern
blos die Mäuchelmörderinn. Wo sollten aber
alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen?

Die
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einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der
Feder gut zu machen iſt. Einen wolluͤſtigen
Schoͤßling ſchneidet der Gaͤrtner in der Stille
ab, ohne auf den geſunden Baum zu ſchelten,
der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen
Augenblick annehmen, — es iſt wahr, es heißt
ſehr viel annehmen, — daß Euripides vielleicht
eben ſo viel Einſicht, eben ſo viel Geſchmack
koͤnne gehabt haben, als ihr; und es wundert
euch um ſo viel mehr, wie er bey dieſer großen
Einſicht, bey dieſem feinen Geſchmacke, dennoch
einen ſo groben Fehler begehen koͤnnen: ſo tretet
zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler
nennt, aus meinem Standorte. Euripides
ſahe es ſo gut, als wir, daß z. E. ſein Jon ohne
den Prolog beſtehen koͤnne; daß er, ohne den-
ſelben, ein Stuͤck ſey, welches die Ungewißheit
und Erwartung des Zuſchauers, bis an das
Ende unterhalte: aber eben an dieſer Ungewiß-
heit und Erwartung war ihm nichts gelegen.
Denn erfuhr es der Zuſchauer erſt in dem fuͤnf-
ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreuſa ſey:
ſo iſt es fuͤr ihn nicht ihr Sohn, ſondern ein
Fremder, ein Feind, den ſie in dem dritten
Akte aus dem Wege raͤumen will; ſo iſt es fuͤr
ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher ſich
Jon in dem vierten Akte raͤchen will, ſondern
blos die Maͤuchelmoͤrderinn. Wo ſollten aber
alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen?

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[387/0401] einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen iſt. Einen wolluͤſtigen Schoͤßling ſchneidet der Gaͤrtner in der Stille ab, ohne auf den geſunden Baum zu ſchelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, — es iſt wahr, es heißt ſehr viel annehmen, — daß Euripides vielleicht eben ſo viel Einſicht, eben ſo viel Geſchmack koͤnne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um ſo viel mehr, wie er bey dieſer großen Einſicht, bey dieſem feinen Geſchmacke, dennoch einen ſo groben Fehler begehen koͤnnen: ſo tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides ſahe es ſo gut, als wir, daß z. E. ſein Jon ohne den Prolog beſtehen koͤnne; daß er, ohne den- ſelben, ein Stuͤck ſey, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuſchauers, bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieſer Ungewiß- heit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuſchauer erſt in dem fuͤnf- ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreuſa ſey: ſo iſt es fuͤr ihn nicht ihr Sohn, ſondern ein Fremder, ein Feind, den ſie in dem dritten Akte aus dem Wege raͤumen will; ſo iſt es fuͤr ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher ſich Jon in dem vierten Akte raͤchen will, ſondern blos die Maͤuchelmoͤrderinn. Wo ſollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die C c c 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/401>, abgerufen am 28.05.2024.