Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

ich schon weiß, daß viele den Stagyriten so ver-
stehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl
bald abgelernt; und der Stümper, der brav
würgen und morden, und keine von seinen Per-
sonen gesund oder lebendig von der Bühne kom-
men liesse, würde sich eben so tragisch dünken
dürfen, als Euripides. Aristoteles hatte un-
streitig mehrere Eigenschaften im Sinne, wel-
chen zu Folge er ihm diesen Charakter ertheilte;
und ohne Zweifel, daß die eben berührte mit
dazu gehörte, vermöge der er nehmlich den Zu-
schauern alle das Unglück, welches seine Per-
sonen überraschen sollte, lange vorher zeigte,
um die Zuschauer auch dann schon mit Mitlei-
den für die Personen einzunehmen, wenn diese
Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten,
Mitleid zu verdienen. -- Sokrates war der Leh-
rer und Freund des Euripides; und wie man-
cher dürfte der Meinung seyn, daß der Dichter
dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts
zu danken habe, als den Reichthum von schönen
Sittensprüchen, den er so verschwendrisch in sei-
nen Stücken ausstreuet. Ich denke, daß er ihr
weit mehr schuldig war; er hätte, ohne sie, eben
so spruchreich seyn können; aber vielleicht würde
er, ohne sie, nicht so tragisch geworden seyn.
Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt
gerade das, was wir von einem Philosophen,
wie Sokrates, am seltensten hören; sein Lebens-

wan-
C c c 3

ich ſchon weiß, daß viele den Stagyriten ſo ver-
ſtehen. Denn das Kunſtſtuͤck waͤre ihm ja wohl
bald abgelernt; und der Stuͤmper, der brav
wuͤrgen und morden, und keine von ſeinen Per-
ſonen geſund oder lebendig von der Buͤhne kom-
men lieſſe, wuͤrde ſich eben ſo tragiſch duͤnken
duͤrfen, als Euripides. Ariſtoteles hatte un-
ſtreitig mehrere Eigenſchaften im Sinne, wel-
chen zu Folge er ihm dieſen Charakter ertheilte;
und ohne Zweifel, daß die eben beruͤhrte mit
dazu gehoͤrte, vermoͤge der er nehmlich den Zu-
ſchauern alle das Ungluͤck, welches ſeine Per-
ſonen uͤberraſchen ſollte, lange vorher zeigte,
um die Zuſchauer auch dann ſchon mit Mitlei-
den fuͤr die Perſonen einzunehmen, wenn dieſe
Perſonen ſelbſt ſich noch weit entfernt glaubten,
Mitleid zu verdienen. — Sokrates war der Leh-
rer und Freund des Euripides; und wie man-
cher duͤrfte der Meinung ſeyn, daß der Dichter
dieſer Freundſchaft des Philoſophen weiter nichts
zu danken habe, als den Reichthum von ſchoͤnen
Sittenſpruͤchen, den er ſo verſchwendriſch in ſei-
nen Stuͤcken ausſtreuet. Ich denke, daß er ihr
weit mehr ſchuldig war; er haͤtte, ohne ſie, eben
ſo ſpruchreich ſeyn koͤnnen; aber vielleicht wuͤrde
er, ohne ſie, nicht ſo tragiſch geworden ſeyn.
Schoͤne Sentenzen und Moralen ſind uͤberhaupt
gerade das, was wir von einem Philoſophen,
wie Sokrates, am ſeltenſten hoͤren; ſein Lebens-

wan-
C c c 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0403" n="389"/>
ich &#x017F;chon weiß, daß viele den Stagyriten &#x017F;o ver-<lb/>
&#x017F;tehen. Denn das Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ck wa&#x0364;re ihm ja wohl<lb/>
bald abgelernt; und der Stu&#x0364;mper, der brav<lb/>
wu&#x0364;rgen und morden, und keine von &#x017F;einen Per-<lb/>
&#x017F;onen ge&#x017F;und oder lebendig von der Bu&#x0364;hne kom-<lb/>
men lie&#x017F;&#x017F;e, wu&#x0364;rde &#x017F;ich eben &#x017F;o tragi&#x017F;ch du&#x0364;nken<lb/>
du&#x0364;rfen, als Euripides. Ari&#x017F;toteles hatte un-<lb/>
&#x017F;treitig mehrere Eigen&#x017F;chaften im Sinne, wel-<lb/>
chen zu Folge er ihm die&#x017F;en Charakter ertheilte;<lb/>
und ohne Zweifel, daß die eben beru&#x0364;hrte mit<lb/>
dazu geho&#x0364;rte, vermo&#x0364;ge der er nehmlich den Zu-<lb/>
&#x017F;chauern alle das Unglu&#x0364;ck, welches &#x017F;eine Per-<lb/>
&#x017F;onen u&#x0364;berra&#x017F;chen &#x017F;ollte, lange vorher zeigte,<lb/>
um die Zu&#x017F;chauer auch dann &#x017F;chon mit Mitlei-<lb/>
den fu&#x0364;r die Per&#x017F;onen einzunehmen, wenn die&#x017F;e<lb/>
Per&#x017F;onen &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich noch weit entfernt glaubten,<lb/>
Mitleid zu verdienen. &#x2014; Sokrates war der Leh-<lb/>
rer und Freund des Euripides; und wie man-<lb/>
cher du&#x0364;rfte der Meinung &#x017F;eyn, daß der Dichter<lb/>
die&#x017F;er Freund&#x017F;chaft des Philo&#x017F;ophen weiter nichts<lb/>
zu danken habe, als den Reichthum von &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Sitten&#x017F;pru&#x0364;chen, den er &#x017F;o ver&#x017F;chwendri&#x017F;ch in &#x017F;ei-<lb/>
nen Stu&#x0364;cken aus&#x017F;treuet. Ich denke, daß er ihr<lb/>
weit mehr &#x017F;chuldig war; er ha&#x0364;tte, ohne &#x017F;ie, eben<lb/>
&#x017F;o &#x017F;pruchreich &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen; aber vielleicht wu&#x0364;rde<lb/>
er, ohne &#x017F;ie, nicht &#x017F;o tragi&#x017F;ch geworden &#x017F;eyn.<lb/>
Scho&#x0364;ne Sentenzen und Moralen &#x017F;ind u&#x0364;berhaupt<lb/>
gerade das, was wir von einem Philo&#x017F;ophen,<lb/>
wie Sokrates, am &#x017F;elten&#x017F;ten ho&#x0364;ren; &#x017F;ein Lebens-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C c c 3</fw><fw place="bottom" type="catch">wan-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[389/0403] ich ſchon weiß, daß viele den Stagyriten ſo ver- ſtehen. Denn das Kunſtſtuͤck waͤre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stuͤmper, der brav wuͤrgen und morden, und keine von ſeinen Per- ſonen geſund oder lebendig von der Buͤhne kom- men lieſſe, wuͤrde ſich eben ſo tragiſch duͤnken duͤrfen, als Euripides. Ariſtoteles hatte un- ſtreitig mehrere Eigenſchaften im Sinne, wel- chen zu Folge er ihm dieſen Charakter ertheilte; und ohne Zweifel, daß die eben beruͤhrte mit dazu gehoͤrte, vermoͤge der er nehmlich den Zu- ſchauern alle das Ungluͤck, welches ſeine Per- ſonen uͤberraſchen ſollte, lange vorher zeigte, um die Zuſchauer auch dann ſchon mit Mitlei- den fuͤr die Perſonen einzunehmen, wenn dieſe Perſonen ſelbſt ſich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. — Sokrates war der Leh- rer und Freund des Euripides; und wie man- cher duͤrfte der Meinung ſeyn, daß der Dichter dieſer Freundſchaft des Philoſophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichthum von ſchoͤnen Sittenſpruͤchen, den er ſo verſchwendriſch in ſei- nen Stuͤcken ausſtreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr ſchuldig war; er haͤtte, ohne ſie, eben ſo ſpruchreich ſeyn koͤnnen; aber vielleicht wuͤrde er, ohne ſie, nicht ſo tragiſch geworden ſeyn. Schoͤne Sentenzen und Moralen ſind uͤberhaupt gerade das, was wir von einem Philoſophen, wie Sokrates, am ſeltenſten hoͤren; ſein Lebens- wan- C c c 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/403
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/403>, abgerufen am 19.05.2024.