wandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen, und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam seyn; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur aus- forschen und lieben; jedes Ding nach seiner Ab- sicht beurtheilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ernsten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat, -- und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann! --
Auch Voltaire scheinet es empfunden zu ha- ben, daß es gut seyn würde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, daß der liebenswürdige unglückliche Jüngling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Mörder ihres Aegisths hin- richten will, der nehmliche Aegisth sey, sofort könne aussetzen lassen. Aber der Jüngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn könnten kennen lernen. Was thut also der Dichter? Wie fängt er es an, daß wir es gewiß wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? -- O, das fängt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Vol- taire besinnen! -- Er läßt, sobald der unbekannte
Jüng-
wandel iſt die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menſchen, und uns ſelbſt kennen; auf unſere Empfindungen aufmerkſam ſeyn; in allen die ebenſten und kuͤrzeſten Wege der Natur aus- forſchen und lieben; jedes Ding nach ſeiner Ab- ſicht beurtheilen: das iſt es, was wir in ſeinem Umgange lernen; das iſt es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ernſten in ſeiner Kunſt machte. Gluͤcklich der Dichter, der ſo einen Freund hat, — und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann! —
Auch Voltaire ſcheinet es empfunden zu ha- ben, daß es gut ſeyn wuͤrde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, daß der liebenswuͤrdige ungluͤckliche Juͤngling, den Merope erſt in Schutz nimmt, und den ſie bald darauf als den Moͤrder ihres Aegisths hin- richten will, der nehmliche Aegisth ſey, ſofort koͤnne ausſetzen laſſen. Aber der Juͤngling kennt ſich ſelbſt nicht; auch iſt ſonſt niemand da, der ihn beſſer kennte, und durch den wir ihn koͤnnten kennen lernen. Was thut alſo der Dichter? Wie faͤngt er es an, daß wir es gewiß wiſſen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? — O, das faͤngt er ſehr ſinnreich an! Auf ſo einen Kunſtgriff konnte ſich nur ein Vol- taire beſinnen! — Er laͤßt, ſobald der unbekannte
Juͤng-
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wandel iſt die einzige Moral, die er prediget.
Aber den Menſchen, und uns ſelbſt kennen; auf
unſere Empfindungen aufmerkſam ſeyn; in allen
die ebenſten und kuͤrzeſten Wege der Natur aus-
forſchen und lieben; jedes Ding nach ſeiner Ab-
ſicht beurtheilen: das iſt es, was wir in ſeinem
Umgange lernen; das iſt es, was Euripides
von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem
Ernſten in ſeiner Kunſt machte. Gluͤcklich der
Dichter, der ſo einen Freund hat, — und ihn alle
Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann! —
Auch Voltaire ſcheinet es empfunden zu ha-
ben, daß es gut ſeyn wuͤrde, wenn er uns mit
dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt
machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung,
daß der liebenswuͤrdige ungluͤckliche Juͤngling,
den Merope erſt in Schutz nimmt, und den ſie
bald darauf als den Moͤrder ihres Aegisths hin-
richten will, der nehmliche Aegisth ſey, ſofort
koͤnne ausſetzen laſſen. Aber der Juͤngling
kennt ſich ſelbſt nicht; auch iſt ſonſt niemand da,
der ihn beſſer kennte, und durch den wir ihn
koͤnnten kennen lernen. Was thut alſo der
Dichter? Wie faͤngt er es an, daß wir es gewiß
wiſſen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren
eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas
zuruft? — O, das faͤngt er ſehr ſinnreich an!
Auf ſo einen Kunſtgriff konnte ſich nur ein Vol-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/404>, abgerufen am 23.11.2024.
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