König, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten könne. Man müsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann sey, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafür erkannt hätten."
Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute unter einander ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Thaten sehen. Das Gute, das wir ihnen, blos auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie interessiren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es so- gar eine üble Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund für den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklären, ihn auch dafür zu erkennen bereit seyn sollten: so
fan-
Koͤnig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten koͤnne. Man muͤſſe zum voraus annehmen, daß er ein rechtſchaffener Mann ſey, wie er beſchrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clariſſe, Eduard, lauter rechtſchaffene Leute, ihn dafuͤr erkannt haͤtten.〟
Es iſt recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen ſetzt; wenn man dem Zeugniſſe, das ſich ehrliche Leute unter einander ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf uns der dramatiſche Dichter mit dieſer Regel der Billigkeit abſpeiſen? Gewiß nicht; ob er ſich ſchon ſein Geſchaͤft dadurch ſehr leicht machen koͤnnte. Wir wollen es auf der Buͤhne ſehen, wer die Menſchen ſind, und koͤnnen es nur aus ihren Thaten ſehen. Das Gute, das wir ihnen, blos auf anderer Wort, zutrauen ſollen, kann uns unmoͤglich fuͤr ſie intereſſiren; es laͤßt uns voͤllig gleichguͤltig, und wenn wir nie die geringſte eigene Erfahrung davon erhalten, ſo hat es ſo- gar eine uͤble Ruͤckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen ſollen. Weit gefehlt alſo, daß wir deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clariſſe, Eduard, den Siegmund fuͤr den vortrefflichſten, vollkommenſten jungen Menſchen erklaͤren, ihn auch dafuͤr zu erkennen bereit ſeyn ſollten: ſo
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Koͤnig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu
darbieten, große Handlungen verrichten koͤnne.
Man muͤſſe zum voraus annehmen, daß er ein
rechtſchaffener Mann ſey, wie er beſchrieben
werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter,
Clariſſe, Eduard, lauter rechtſchaffene Leute,
ihn dafuͤr erkannt haͤtten.〟
Es iſt recht wohl gehandelt, wenn man, im
gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein
beleidigendes Mißtrauen ſetzt; wenn man dem
Zeugniſſe, das ſich ehrliche Leute unter einander
ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf
uns der dramatiſche Dichter mit dieſer Regel der
Billigkeit abſpeiſen? Gewiß nicht; ob er ſich
ſchon ſein Geſchaͤft dadurch ſehr leicht machen
koͤnnte. Wir wollen es auf der Buͤhne ſehen,
wer die Menſchen ſind, und koͤnnen es nur aus
ihren Thaten ſehen. Das Gute, das wir ihnen,
blos auf anderer Wort, zutrauen ſollen, kann
uns unmoͤglich fuͤr ſie intereſſiren; es laͤßt uns
voͤllig gleichguͤltig, und wenn wir nie die geringſte
eigene Erfahrung davon erhalten, ſo hat es ſo-
gar eine uͤble Ruͤckwirkung auf diejenigen, auf
deren Treu und Glauben wir es einzig und allein
annehmen ſollen. Weit gefehlt alſo, daß wir
deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clariſſe,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/80>, abgerufen am 24.11.2024.
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