Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewäh-
let hatte, wird beym Rousseau nur kaum be-
rührt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns
eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe
es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er
läßt den Vater, die Tochter zu Boden stoßen.
Ich war um die Ausführung dieser Aktion be-
sorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler
hatten sie so wohl concertiret; es ward, von Sei-
ten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand
dabey beobachtet, und dieser Anstand that der
Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir geste-
hen mußte, diesen Akteurs könne man so etwas
anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver-
langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf-
gehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen
soll. Es kann ihm lieb seyn, daß dieses unter-
lassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu
dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn
in solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft
Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es
nicht wirklich sehen.

Die darauf folgende Scene ist die hervor-
ragendste des ganzen Stückes. Sie gehört dem
Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Un-
wille sich in die Empfindung des Pathetischen
mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter
fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget,
es kränket uns, denjenigen so erniedriget zu er-

blicken,

Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh-
let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be-
ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns
eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe
es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er
laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen.
Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be-
ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler
hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei-
ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand
dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der
Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte-
hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas
anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver-
langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf-
gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen
ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter-
laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu
dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn
in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft
Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es
nicht wirklich ſehen.

Die darauf folgende Scene iſt die hervor-
ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem
Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un-
wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen
miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter
fußfaͤllig um etwas bitten ſehen. Es beleidiget,
es kraͤnket uns, denjenigen ſo erniedriget zu er-

blicken,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0082" n="68"/>
Gemahle nehmen &#x017F;oll, als den ihr Herz gewa&#x0364;h-<lb/>
let hatte, wird beym Rou&#x017F;&#x017F;eau nur kaum be-<lb/>
ru&#x0364;hrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns<lb/>
eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe<lb/>
es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er<lb/>
la&#x0364;ßt den Vater, die Tochter zu Boden &#x017F;toßen.<lb/>
Ich war um die Ausfu&#x0364;hrung die&#x017F;er Aktion be-<lb/>
&#x017F;orgt. Aber vergebens; un&#x017F;ere Schau&#x017F;pieler<lb/>
hatten &#x017F;ie &#x017F;o wohl concertiret; es ward, von Sei-<lb/>
ten des Vaters und der Tochter, &#x017F;o viel An&#x017F;tand<lb/>
dabey beobachtet, und die&#x017F;er An&#x017F;tand that der<lb/>
Wahrheit &#x017F;o wenig Abbruch, daß ich mir ge&#x017F;te-<lb/>
hen mußte, die&#x017F;en Akteurs ko&#x0364;nne man &#x017F;o etwas<lb/>
anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver-<lb/>
langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf-<lb/>
gehoben wird, &#x017F;ich in ihrem Ge&#x017F;ichte Blut zeigen<lb/>
&#x017F;oll. Es kann ihm lieb &#x017F;eyn, daß die&#x017F;es unter-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en worden. Die Pantomime muß nie bis zu<lb/>
dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn<lb/>
in &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen die erhitzte Einbildungskraft<lb/>
Blut zu &#x017F;ehen glaubt; aber das Auge muß es<lb/>
nicht wirklich &#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Die darauf folgende Scene i&#x017F;t die hervor-<lb/>
ragend&#x017F;te des ganzen Stu&#x0364;ckes. Sie geho&#x0364;rt dem<lb/>
Rou&#x017F;&#x017F;eau. Ich weiß &#x017F;elb&#x017F;t nicht, welcher Un-<lb/>
wille &#x017F;ich in die Empfindung des Patheti&#x017F;chen<lb/>
mi&#x017F;chet, wenn wir einen Vater &#x017F;eine Tochter<lb/>
fußfa&#x0364;llig um etwas bitten &#x017F;ehen. Es beleidiget,<lb/>
es kra&#x0364;nket uns, denjenigen &#x017F;o erniedriget zu er-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">blicken,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0082] Gemahle nehmen ſoll, als den ihr Herz gewaͤh- let hatte, wird beym Rouſſeau nur kaum be- ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden ſtoßen. Ich war um die Ausfuͤhrung dieſer Aktion be- ſorgt. Aber vergebens; unſere Schauſpieler hatten ſie ſo wohl concertiret; es ward, von Sei- ten des Vaters und der Tochter, ſo viel Anſtand dabey beobachtet, und dieſer Anſtand that der Wahrheit ſo wenig Abbruch, daß ich mir geſte- hen mußte, dieſen Akteurs koͤnne man ſo etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver- langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf- gehoben wird, ſich in ihrem Geſichte Blut zeigen ſoll. Es kann ihm lieb ſeyn, daß dieſes unter- laſſen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn in ſolchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu ſehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich ſehen. Die darauf folgende Scene iſt die hervor- ragendſte des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem Rouſſeau. Ich weiß ſelbſt nicht, welcher Un- wille ſich in die Empfindung des Pathetiſchen miſchet, wenn wir einen Vater ſeine Tochter fußfaͤllig um etwas bitten ſehen. Es beleidiget, es kraͤnket uns, denjenigen ſo erniedriget zu er- blicken,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/82
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/82>, abgerufen am 21.11.2024.