Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst von Mamma gehört hatte. Die Muttter er- grimmt, überfällt sie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? sagt endlich das ruhige Mäd- chen. Sie haben sich den H. Bernard gewählt; und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? -- Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen, mit welchen das weise Alter des göttlichen Vol- taire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komi- schen Oper seyn muß. Er sahe nichts anstößiges darinn, als die Namen der Heiligen, und die- sem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhängerinn der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter den Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette, Isabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agnese ist. Man hat die Sitten darinn, den unsrigen näher zu brin- gen gesucht, man hat sich aller Anständigkeit beflissen; das liebe Mädchen ist von der reitzendster, verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle verstreuet, die zum Theil dem deutschen Ver- fasser eigen sind. Ich kann mich in die Verän-
derun-
Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er- grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd- chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt; und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? — Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen, mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol- taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi- ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges darinn, als die Namen der Heiligen, und die- ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe, eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter den Namen und in der Geſtalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter. Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin- gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter, verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das Ganze ſind eine Menge gute komiſche Einfaͤlle verſtreuet, die zum Theil dem deutſchen Ver- faſſer eigen ſind. Ich kann mich in die Veraͤn-
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Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt
von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er-
grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn,
liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd-
chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt;
und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? —
Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen,
mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol-
taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es
gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi-
ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges
darinn, als die Namen der Heiligen, und die-
ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte
aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe,
eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und
der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der
unter den Namen und in der Geſtalt eines guten
Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum
Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter.
Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und
Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche
die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat
die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin-
gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit
befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter,
verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/90>, abgerufen am 24.11.2024.
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