Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst
von Mamma gehört hatte. Die Muttter er-
grimmt, überfällt sie, tobt. Nun, was denn,
liebe Mamma? sagt endlich das ruhige Mäd-
chen. Sie haben sich den H. Bernard gewählt;
und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? --
Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen,
mit welchen das weise Alter des göttlichen Vol-
taire die junge Welt beschenkte. Favart fand es
gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komi-
schen Oper seyn muß. Er sahe nichts anstößiges
darinn, als die Namen der Heiligen, und die-
sem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte
aus Madame Gertrude eine platonische Weise,
eine Anhängerinn der Lehre des Gabalis; und
der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der
unter den Namen und in der Gestalt eines guten
Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum
Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter.
Kurz, es entstand die Operette, Isabelle und
Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche
die Grundlage zur neuen Agnese ist. Man hat
die Sitten darinn, den unsrigen näher zu brin-
gen gesucht, man hat sich aller Anständigkeit
beflissen; das liebe Mädchen ist von der reitzendster,
verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das
Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle
verstreuet, die zum Theil dem deutschen Ver-
fasser eigen sind. Ich kann mich in die Verän-

derun-

Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt
von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er-
grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn,
liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd-
chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt;
und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? —
Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen,
mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol-
taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es
gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi-
ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges
darinn, als die Namen der Heiligen, und die-
ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte
aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe,
eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und
der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der
unter den Namen und in der Geſtalt eines guten
Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum
Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter.
Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und
Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche
die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat
die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin-
gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit
befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter,
verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das
Ganze ſind eine Menge gute komiſche Einfaͤlle
verſtreuet, die zum Theil dem deutſchen Ver-
faſſer eigen ſind. Ich kann mich in die Veraͤn-

derun-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0090" n="76"/>
Seufzer zu ho&#x0364;ren, als das To&#x0364;chterchen ju&#x0364;ng&#x017F;t<lb/>
von Mamma geho&#x0364;rt hatte. Die Muttter er-<lb/>
grimmt, u&#x0364;berfa&#x0364;llt &#x017F;ie, tobt. Nun, was denn,<lb/>
liebe Mamma? &#x017F;agt endlich das ruhige Ma&#x0364;d-<lb/>
chen. Sie haben &#x017F;ich den H. Bernard gewa&#x0364;hlt;<lb/>
und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? &#x2014;<lb/>
Die&#x017F;es i&#x017F;t eines von den lehrreichen Ma&#x0364;rchen,<lb/>
mit welchen das wei&#x017F;e Alter des go&#x0364;ttlichen Vol-<lb/>
taire die junge Welt be&#x017F;chenkte. Favart fand es<lb/>
gerade &#x017F;o erbaulich, als die Fabel zu einer komi-<lb/>
&#x017F;chen Oper &#x017F;eyn muß. Er &#x017F;ahe nichts an&#x017F;to&#x0364;ßiges<lb/>
darinn, als die Namen der Heiligen, und die-<lb/>
&#x017F;em An&#x017F;toße wußte er auszuweichen. Er machte<lb/>
aus Madame Gertrude eine platoni&#x017F;che Wei&#x017F;e,<lb/>
eine Anha&#x0364;ngerinn der Lehre des Gabalis; und<lb/>
der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der<lb/>
unter den Namen und in der Ge&#x017F;talt eines guten<lb/>
Bekannten die tugendhafte Frau be&#x017F;ucht. Zum<lb/>
Sylphen ward dann auch Hilar, und &#x017F;o weiter.<lb/>
Kurz, es ent&#x017F;tand die Operette, I&#x017F;abelle und<lb/>
Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche<lb/>
die Grundlage zur neuen Agne&#x017F;e i&#x017F;t. Man hat<lb/>
die Sitten darinn, den un&#x017F;rigen na&#x0364;her zu brin-<lb/>
gen ge&#x017F;ucht, man hat &#x017F;ich aller An&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit<lb/>
befli&#x017F;&#x017F;en; das liebe Ma&#x0364;dchen i&#x017F;t von der reitzend&#x017F;ter,<lb/>
verehrungswu&#x0364;rdig&#x017F;ten Un&#x017F;chuld; und durch das<lb/>
Ganze &#x017F;ind eine Menge gute komi&#x017F;che Einfa&#x0364;lle<lb/>
ver&#x017F;treuet, die zum Theil dem deut&#x017F;chen Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;er eigen &#x017F;ind. Ich kann mich in die Vera&#x0364;n-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">derun-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0090] Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngſt von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er- grimmt, uͤberfaͤllt ſie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? ſagt endlich das ruhige Maͤd- chen. Sie haben ſich den H. Bernard gewaͤhlt; und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? — Dieſes iſt eines von den lehrreichen Maͤrchen, mit welchen das weiſe Alter des goͤttlichen Vol- taire die junge Welt beſchenkte. Favart fand es gerade ſo erbaulich, als die Fabel zu einer komi- ſchen Oper ſeyn muß. Er ſahe nichts anſtoͤßiges darinn, als die Namen der Heiligen, und die- ſem Anſtoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platoniſche Weiſe, eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter den Namen und in der Geſtalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau beſucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und ſo weiter. Kurz, es entſtand die Operette, Iſabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agneſe iſt. Man hat die Sitten darinn, den unſrigen naͤher zu brin- gen geſucht, man hat ſich aller Anſtaͤndigkeit befliſſen; das liebe Maͤdchen iſt von der reitzendſter, verehrungswuͤrdigſten Unſchuld; und durch das Ganze ſind eine Menge gute komiſche Einfaͤlle verſtreuet, die zum Theil dem deutſchen Ver- faſſer eigen ſind. Ich kann mich in die Veraͤn- derun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/90
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/90>, abgerufen am 24.11.2024.