gen Parterre das stehende Volk drengt und stößt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders belei- digte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zu- schauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren nothwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war überzeugt, daß blos dieser Uebelstand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bey einem freyern, zu Handlungen bequemern und prächtigern Theater, ohne Zweifel gewagt hätte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver- fertigte er seine Semiramis. Eine Königinn, welche die Stände ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein Ge- spenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blut- schande zu verhindern, und sich an seinem Mör- der zu rächen; diese Gruft, in die ein Narr her- eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus- zukommen: das alles war in der That für die Fran- zosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Ler- men auf der Bühne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gege- ben zu haben; und ob er es schon nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern so wie er sie wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vor der Hand, so gut gespielet, als es sich ohngefähr spielen ließ.
Bey
gen Parterre das ſtehende Volk drengt und ſtoͤßt, beleidigte ihn mit Recht; und beſonders belei- digte ihn die barbariſche Gewohnheit, die Zu- ſchauer auf der Buͤhne zu dulden, wo ſie den Akteurs kaum ſo viel Platz laſſen, als zu ihren nothwendigſten Bewegungen erforderlich iſt. Er war uͤberzeugt, daß blos dieſer Uebelſtand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bey einem freyern, zu Handlungen bequemern und praͤchtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haͤtte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver- fertigte er ſeine Semiramis. Eine Koͤniginn, welche die Staͤnde ihres Reichs verſammelt, um ihnen ihre Vermaͤhlung zu eroͤffnen; ein Ge- ſpenſt, das aus ſeiner Gruft ſteigt, um Blut- ſchande zu verhindern, und ſich an ſeinem Moͤr- der zu raͤchen; dieſe Gruft, in die ein Narr her- eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus- zukommen: das alles war in der That fuͤr die Fran- zoſen etwas ganz Neues. Es macht ſo viel Ler- men auf der Buͤhne, es erfordert ſo viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt iſt. Der Dichter glaubte das Muſter zu einer ganz beſondern Gattung gege- ben zu haben; und ob er es ſchon nicht fuͤr die franzoͤſiſche Buͤhne, ſo wie ſie war, ſondern ſo wie er ſie wuͤnſchte, gemacht hatte: ſo ward es dennoch auf derſelben, vor der Hand, ſo gut geſpielet, als es ſich ohngefaͤhr ſpielen ließ.
Bey
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gen Parterre das ſtehende Volk drengt und ſtoͤßt,
beleidigte ihn mit Recht; und beſonders belei-
digte ihn die barbariſche Gewohnheit, die Zu-
ſchauer auf der Buͤhne zu dulden, wo ſie den
Akteurs kaum ſo viel Platz laſſen, als zu ihren
nothwendigſten Bewegungen erforderlich iſt.
Er war uͤberzeugt, daß blos dieſer Uebelſtand
Frankreich um vieles gebracht habe, was man,
bey einem freyern, zu Handlungen bequemern
und praͤchtigern Theater, ohne Zweifel gewagt
haͤtte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver-
fertigte er ſeine Semiramis. Eine Koͤniginn,
welche die Staͤnde ihres Reichs verſammelt, um
ihnen ihre Vermaͤhlung zu eroͤffnen; ein Ge-
ſpenſt, das aus ſeiner Gruft ſteigt, um Blut-
ſchande zu verhindern, und ſich an ſeinem Moͤr-
der zu raͤchen; dieſe Gruft, in die ein Narr her-
eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus-
zukommen: das alles war in der That fuͤr die Fran-
zoſen etwas ganz Neues. Es macht ſo viel Ler-
men auf der Buͤhne, es erfordert ſo viel Pomp
und Verwandlung, als man nur immer in einer
Oper gewohnt iſt. Der Dichter glaubte das
Muſter zu einer ganz beſondern Gattung gege-
ben zu haben; und ob er es ſchon nicht fuͤr die
franzoͤſiſche Buͤhne, ſo wie ſie war, ſondern ſo
wie er ſie wuͤnſchte, gemacht hatte: ſo ward es
dennoch auf derſelben, vor der Hand, ſo gut
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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