dern er läßt es vor unsern Augen nochmals ge- schehen; und läßt es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, son- dern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch die Täuschung rühren. Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine Ge- spenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglau- ben die Täuschung nothwendig verhindern müß- te; wenn ohne Täuschung wir unmöglich sym- pathisiren können: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns dem ohn- geachtet solche unglaubliche Mährchen ausstaffi- ret; alle Kunst, die er dabey anwendet, ist ver- loren.
Folglich? Folglich ist es durchaus nicht er- laubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Bühne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrock- net? Nein; dieser Verlust wäre für die Poesie zu groß; und hat sie nicht Beyspiele für sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spöt- tisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fürch- terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch seyn. Wir glauben keine Gespenster
mehr?
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dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge- ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon- dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren. Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge- ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau- ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß- te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym- pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn- geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi- ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver- loren.
Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er- laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock- net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich, wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt- tiſch vorkommen, unſerer Einbildung ſehr fuͤrch- terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Vorausſetzung wird nur falſch ſeyn. Wir glauben keine Geſpenſter
mehr?
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dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge-
ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht
der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern
in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die
hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon-
dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will
uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren.
Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge-
ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau-
ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß-
te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym-
pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche
Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn-
geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi-
ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver-
loren.
Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er-
laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die
Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des
Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock-
net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie
zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich,
wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet,
und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/97>, abgerufen am 21.11.2024.
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