[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].Mit dieser Drohung geht die Königinn ab, und läßt die Blanca in der äußersten Verzweif- lung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, über die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königinn hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon be- schlossen: aber warum soll Blanca noch erst war- ten, bis sie ein anderer für sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Königinn, muß sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. -- Sie sieht die Königinn mit dem Kanzler wieder- kommen, und geht, sich zu ihrem Vorhaben ge- faßt zu machen. Der Kanzler hält verschiedne Briefschaften, die ihm die Königinn nur auf einen Tisch zu le- gen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die ausseror- dentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichs- geschäften obliege; die Königinn erkennt es für ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein, und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen, und anständigern Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Hände nimt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muß es denn eben, sagt sie, von einem Gra- fen
Mit dieſer Drohung geht die Königinn ab, und läßt die Blanca in der äußerſten Verzweif- lung. Dieſes fehlte noch zu den Beleidigungen, über die ſich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königinn hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will ſie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war ſchon be- ſchloſſen: aber warum ſoll Blanca noch erſt war- ten, bis ſie ein anderer für ſie vollzieht? Sie will ſie ſelbſt bewerkſtelligen, und noch dieſen Abend. Als Kammerfrau der Königinn, muß ſie ſie auskleiden helfen; da iſt ſie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. — Sie ſieht die Königinn mit dem Kanzler wieder- kommen, und geht, ſich zu ihrem Vorhaben ge- faßt zu machen. Der Kanzler hält verſchiedne Briefſchaften, die ihm die Königinn nur auf einen Tiſch zu le- gen befiehlt; ſie will ſie vor Schlafengehen noch durchſehen. Der Kanzler erhebt die auſſeror- dentliche Wachſamkeit, mit der ſie ihren Reichs- geſchäften obliege; die Königinn erkennt es für ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun iſt ſie allein, und ſetzt ſich zu den Papieren. Sie will ſich ihres verliebten Kummers entſchlagen, und anſtändigern Sorgen überlaſſen. Aber das erſte Papier, was ſie in die Hände nimt, iſt die Bittſchrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! „Muß es denn eben, ſagt ſie, von einem Gra- fen
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Mit dieſer Drohung geht die Königinn ab,
und läßt die Blanca in der äußerſten Verzweif-
lung. Dieſes fehlte noch zu den Beleidigungen,
über die ſich Blanca bereits zu beklagen hatte.
Die Königinn hat ihr Vater und Bruder und
Vermögen genommen: und nun will ſie ihr auch
den Grafen nehmen. Die Rache war ſchon be-
ſchloſſen: aber warum ſoll Blanca noch erſt war-
ten, bis ſie ein anderer für ſie vollzieht? Sie
will ſie ſelbſt bewerkſtelligen, und noch dieſen
Abend. Als Kammerfrau der Königinn, muß
ſie ſie auskleiden helfen; da iſt ſie mit ihr allein;
und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. —
Sie ſieht die Königinn mit dem Kanzler wieder-
kommen, und geht, ſich zu ihrem Vorhaben ge-
faßt zu machen.
Der Kanzler hält verſchiedne Briefſchaften,
die ihm die Königinn nur auf einen Tiſch zu le-
gen befiehlt; ſie will ſie vor Schlafengehen noch
durchſehen. Der Kanzler erhebt die auſſeror-
dentliche Wachſamkeit, mit der ſie ihren Reichs-
geſchäften obliege; die Königinn erkennt es für
ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun
iſt ſie allein, und ſetzt ſich zu den Papieren. Sie
will ſich ihres verliebten Kummers entſchlagen,
und anſtändigern Sorgen überlaſſen. Aber das
erſte Papier, was ſie in die Hände nimt, iſt die
Bittſchrift eines Grafen Felix. Eines Grafen!
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