lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darinn sagt: wenigstens das, was er hätte sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere; (wo dieses Sprüchelchen steht, will mir nicht gleich beyfallen) und ich wüßte keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte, ob man auf dieser ersten Stuffe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns die zweyte zu ersteigen, weniger behülflich seyn könn- te; secundus, vera cognoscere. Ein kri- tischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchel- chen ein. Er suche sich nur ersten jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich be- kenne es aufrichtig, nun einmal die französi- schen Scribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeu- gung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwann mehr muthwillig als gründlich scheinen wollte: der soll wissen, daß selbst der gründliche Aristoteles sich ihrer fast immer be- dient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere, & casu, sed certa
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lernen: wenn ſchon nicht allezeit das, was er darinn ſagt: wenigſtens das, was er hätte ſagen ſollen. Primus ſapientiæ gradus eſt, falſa intelligere; (wo dieſes Sprüchelchen ſteht, will mir nicht gleich beyfallen) und ich wüßte keinen Schriftſteller in der Welt, an dem man es ſo gut verſuchen könnte, ob man auf dieſer erſten Stuffe der Weisheit ſtehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns die zweyte zu erſteigen, weniger behülflich ſeyn könn- te; ſecundus, vera cognoſcere. Ein kri- tiſcher Schriftſteller, dünkt mich, richtet ſeine Methode auch am beſten nach dieſem Sprüchel- chen ein. Er ſuche ſich nur erſten jemanden, mit dem er ſtreiten kann: ſo kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet ſich. Hierzu habe ich mir in dieſem Werke, ich be- kenne es aufrichtig, nun einmal die franzöſi- ſchen Scribenten vornehmlich erwählet, und unter dieſen beſonders den Hrn. von Voltaire. Alſo auch itzt, nach einer kleinen Verbeu- gung, nur darauf zu! Wem dieſe Methode aber etwann mehr muthwillig als gründlich ſcheinen wollte: der ſoll wiſſen, daß ſelbſt der gründliche Ariſtoteles ſich ihrer faſt immer be- dient hat. Solet Ariſtoteles, ſagt einer von ſeinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quærere pugnam in ſuis libris. Atque hoc facit non temere, & caſu, ſed certa
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lernen: wenn ſchon nicht allezeit das, was er
darinn ſagt: wenigſtens das, was er hätte ſagen
ſollen. Primus ſapientiæ gradus eſt, falſa
intelligere; (wo dieſes Sprüchelchen ſteht, will
mir nicht gleich beyfallen) und ich wüßte keinen
Schriftſteller in der Welt, an dem man es ſo
gut verſuchen könnte, ob man auf dieſer erſten
Stuffe der Weisheit ſtehe, als an dem Herrn von
Voltaire: aber daher auch keinen, der uns die
zweyte zu erſteigen, weniger behülflich ſeyn könn-
te; ſecundus, vera cognoſcere. Ein kri-
tiſcher Schriftſteller, dünkt mich, richtet ſeine
Methode auch am beſten nach dieſem Sprüchel-
chen ein. Er ſuche ſich nur erſten jemanden, mit
dem er ſtreiten kann: ſo kömmt er nach und nach
in die Materie, und das übrige findet ſich.
Hierzu habe ich mir in dieſem Werke, ich be-
kenne es aufrichtig, nun einmal die franzöſi-
ſchen Scribenten vornehmlich erwählet, und
unter dieſen beſonders den Hrn. von Voltaire.
Alſo auch itzt, nach einer kleinen Verbeu-
gung, nur darauf zu! Wem dieſe Methode
aber etwann mehr muthwillig als gründlich
ſcheinen wollte: der ſoll wiſſen, daß ſelbſt der
gründliche Ariſtoteles ſich ihrer faſt immer be-
dient hat. Solet Ariſtoteles, ſagt einer von
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/149>, abgerufen am 09.11.2024.
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