"glück für geschehen, und bejammert ihren ge- "habten Verlust. Was wir bey den Schmerzen "des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitlei- "den, aber von einer etwas andern Natur; "denn die Quaal, die dieser Tugendhafte aus- "zustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt "ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich "entsetzt, indem das große Geheimniß sich plötz- "lich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als "sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfär- "ben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona "sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichen Othello "so drohend mit ihr reden höret: was empfinden "wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit- "leidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitlei- "diges Schrecken. Die Bewegungen sind ver- "schieden, allein das Wesen der Empfindungen "ist in allen diesen Fällen einerley. Denn, da "jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden "ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: "so müssen wir alle Arten von Leiden mit der ge- "liebten Person theilen, welches man sehr nach- "drücklich Mitleiden nennet. Warum sollten "also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei- "fersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar- "ten von unangenehmen Empfindungen, sogar "den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden "entstehen können? -- Man sieht hieraus, wie "gar ungeschickt der größte Theil der Kunstrich-
"ter
„glück für geſchehen, und bejammert ihren ge- „habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen „des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei- „den, aber von einer etwas andern Natur; „denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus- „zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt „ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich „entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz- „lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als „ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär- „ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona „ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello „ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden „wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit- „leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei- „diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver- „ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen „iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da „jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden „iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen: „ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge- „liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach- „drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten „alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei- „ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar- „ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar „den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden „entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie „gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich-
„ter
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0181"n="175"/>„glück für geſchehen, und bejammert ihren ge-<lb/>„habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen<lb/>„des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei-<lb/>„den, aber von einer etwas andern Natur;<lb/>„denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus-<lb/>„zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt<lb/>„ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich<lb/>„entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz-<lb/>„lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als<lb/>„ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär-<lb/>„ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona<lb/>„ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello<lb/>„ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden<lb/>„wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit-<lb/>„leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei-<lb/>„diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver-<lb/>„ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen<lb/>„iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da<lb/>„jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden<lb/>„iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen:<lb/>„ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge-<lb/>„liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach-<lb/>„drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten<lb/>„alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei-<lb/>„ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar-<lb/>„ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar<lb/>„den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden<lb/>„entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie<lb/>„gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„ter</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[175/0181]
„glück für geſchehen, und bejammert ihren ge-
„habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen
„des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei-
„den, aber von einer etwas andern Natur;
„denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus-
„zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt
„ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich
„entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz-
„lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als
„ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär-
„ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona
„ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello
„ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden
„wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit-
„leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei-
„diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver-
„ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen
„iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da
„jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden
„iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen:
„ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge-
„liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach-
„drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten
„alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei-
„ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar-
„ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar
„den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden
„entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie
„gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich-
„ter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/181>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.