mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.
Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra- gischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines an- dern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Aehnlich- keit mit der leidenden Person für uns selbst ent- springt; es ist die Furcht, daß die Unglücks- fälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst wer- den können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.
Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen neuen Commentar über seine Dichtkunst liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rathe ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermuthet; besonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral studie- ren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse
müß-
mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.
Denn er, Ariſtoteles, iſt es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra- giſchen Leidenſchaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falſch verſtanden, falſch überſetzt. Er ſpricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und ſeine Furcht iſt durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorſtehende Uebel eines an- dern, für dieſen andern, erweckt, ſondern es iſt die Furcht, welche aus unſerer Aehnlich- keit mit der leidenden Perſon für uns ſelbſt ent- ſpringt; es iſt die Furcht, daß die Unglücks- fälle, die wir über dieſe verhänget ſehen, uns ſelbſt treffen können; es iſt die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenſtand ſelbſt wer- den können. Mit einem Worte: dieſe Furcht iſt das auf uns ſelbſt bezogene Mitleid.
Ariſtoteles will überall aus ſich ſelbſt erklärt werden. Wer uns einen neuen Commentar über ſeine Dichtkunſt liefern will, welcher den Dacierſchen weit hinter ſich läßt, dem rathe ich, vor allen Dingen die Werke des Philoſophen vom Anfange bis zum Ende zu leſen. Er wird Aufſchlüſſe für die Dichtkunſt finden, wo er ſich deren am wenigſten vermuthet; beſonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral ſtudie- ren. Man ſollte zwar denken, dieſe Aufſchlüſſe
müß-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0184"n="178"/>
mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid<lb/>
begriffen.</p><lb/><p>Denn er, Ariſtoteles, iſt es gewiß nicht,<lb/>
der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra-<lb/>
giſchen Leidenſchaften in Mitleid und Schrecken<lb/>
gemacht hat. Man hat ihn falſch verſtanden,<lb/>
falſch überſetzt. Er ſpricht von Mitleid und<lb/>
Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und<lb/>ſeine Furcht iſt durchaus nicht die Furcht,<lb/>
welche uns das bevorſtehende Uebel eines an-<lb/>
dern, für dieſen andern, erweckt, ſondern es<lb/>
iſt die Furcht, welche aus unſerer Aehnlich-<lb/>
keit mit der leidenden Perſon für uns ſelbſt ent-<lb/>ſpringt; es iſt die Furcht, daß die Unglücks-<lb/>
fälle, die wir über dieſe verhänget ſehen,<lb/>
uns ſelbſt treffen können; es iſt die Furcht,<lb/>
daß wir der bemitleidete Gegenſtand ſelbſt wer-<lb/>
den können. Mit einem Worte: dieſe Furcht<lb/>
iſt das auf uns ſelbſt bezogene Mitleid.</p><lb/><p>Ariſtoteles will überall aus ſich ſelbſt erklärt<lb/>
werden. Wer uns einen neuen Commentar<lb/>
über ſeine Dichtkunſt liefern will, welcher den<lb/>
Dacierſchen weit hinter ſich läßt, dem rathe ich,<lb/>
vor allen Dingen die Werke des Philoſophen<lb/>
vom Anfange bis zum Ende zu leſen. Er wird<lb/>
Aufſchlüſſe für die Dichtkunſt finden, wo er ſich<lb/>
deren am wenigſten vermuthet; beſonders muß<lb/>
er die Bücher der Rhetorik und Moral ſtudie-<lb/>
ren. Man ſollte zwar denken, dieſe Aufſchlüſſe<lb/><fwplace="bottom"type="catch">müß-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[178/0184]
mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid
begriffen.
Denn er, Ariſtoteles, iſt es gewiß nicht,
der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra-
giſchen Leidenſchaften in Mitleid und Schrecken
gemacht hat. Man hat ihn falſch verſtanden,
falſch überſetzt. Er ſpricht von Mitleid und
Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und
ſeine Furcht iſt durchaus nicht die Furcht,
welche uns das bevorſtehende Uebel eines an-
dern, für dieſen andern, erweckt, ſondern es
iſt die Furcht, welche aus unſerer Aehnlich-
keit mit der leidenden Perſon für uns ſelbſt ent-
ſpringt; es iſt die Furcht, daß die Unglücks-
fälle, die wir über dieſe verhänget ſehen,
uns ſelbſt treffen können; es iſt die Furcht,
daß wir der bemitleidete Gegenſtand ſelbſt wer-
den können. Mit einem Worte: dieſe Furcht
iſt das auf uns ſelbſt bezogene Mitleid.
Ariſtoteles will überall aus ſich ſelbſt erklärt
werden. Wer uns einen neuen Commentar
über ſeine Dichtkunſt liefern will, welcher den
Dacierſchen weit hinter ſich läßt, dem rathe ich,
vor allen Dingen die Werke des Philoſophen
vom Anfange bis zum Ende zu leſen. Er wird
Aufſchlüſſe für die Dichtkunſt finden, wo er ſich
deren am wenigſten vermuthet; beſonders muß
er die Bücher der Rhetorik und Moral ſtudie-
ren. Man ſollte zwar denken, dieſe Aufſchlüſſe
müß-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/184>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.