Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite
Hamburgische
Dramaturgie.


Fünf und siebzigstes Stück.





Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so
einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder
hätte sie haben können und haben müssen.
Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemer-
kungen des neuen Philosophen dem alten nicht
unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die
Lehre von den vermischten Empfindungen zu
wohl; die wahre Theorie derselben haben wir
nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich
auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristote-
les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we-
nigstens ist es unleugbar, daß Aristoteles ent-
weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne
und solle nichts als das eigentliche Mitleid,
nichts als die Unlust über das gegenwärtige
Uebel eines andern, erwecken, welches ihm
schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden-
schaften überhaupt, die uns von einem andern

mit-
Z
Hamburgiſche
Dramaturgie.


Fünf und ſiebzigſtes Stück.





Dieſe Gedanken ſind ſo richtig, ſo klar, ſo
einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder
hätte ſie haben können und haben müſſen.
Gleichwohl will ich die ſcharfſinnigen Bemer-
kungen des neuen Philoſophen dem alten nicht
unterſchieben; ich kenne jenes Verdienſte um die
Lehre von den vermiſchten Empfindungen zu
wohl; die wahre Theorie derſelben haben wir
nur ihm zu danken. Aber was er ſo vortrefflich
auseinandergeſetzt hat, das kann doch Ariſtote-
les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we-
nigſtens iſt es unleugbar, daß Ariſtoteles ent-
weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne
und ſolle nichts als das eigentliche Mitleid,
nichts als die Unluſt über das gegenwärtige
Uebel eines andern, erwecken, welches ihm
ſchwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden-
ſchaften überhaupt, die uns von einem andern

mit-
Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0183" n="[177]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Hamburgi&#x017F;che<lb/><hi rendition="#g">Dramaturgie</hi>.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Fünf und &#x017F;iebzig&#x017F;tes Stück.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#c">Den 19ten Januar, 1768.</hi> </dateline><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>ie&#x017F;e Gedanken &#x017F;ind &#x017F;o richtig, &#x017F;o klar, &#x017F;o<lb/>
einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder<lb/>
hätte &#x017F;ie haben können und haben mü&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Gleichwohl will ich die &#x017F;charf&#x017F;innigen Bemer-<lb/>
kungen des neuen Philo&#x017F;ophen dem alten nicht<lb/>
unter&#x017F;chieben; ich kenne jenes Verdien&#x017F;te um die<lb/>
Lehre von den vermi&#x017F;chten Empfindungen zu<lb/>
wohl; die wahre Theorie der&#x017F;elben haben wir<lb/>
nur ihm zu danken. Aber was er &#x017F;o vortrefflich<lb/>
auseinanderge&#x017F;etzt hat, das kann doch Ari&#x017F;tote-<lb/>
les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we-<lb/>
nig&#x017F;tens i&#x017F;t es unleugbar, daß Ari&#x017F;toteles ent-<lb/>
weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne<lb/>
und &#x017F;olle nichts als das eigentliche Mitleid,<lb/>
nichts als die Unlu&#x017F;t über das gegenwärtige<lb/>
Uebel eines andern, erwecken, welches ihm<lb/>
&#x017F;chwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften überhaupt, die uns von einem andern<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z</fw><fw place="bottom" type="catch">mit-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[177]/0183] Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und ſiebzigſtes Stück. Den 19ten Januar, 1768. Dieſe Gedanken ſind ſo richtig, ſo klar, ſo einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte ſie haben können und haben müſſen. Gleichwohl will ich die ſcharfſinnigen Bemer- kungen des neuen Philoſophen dem alten nicht unterſchieben; ich kenne jenes Verdienſte um die Lehre von den vermiſchten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derſelben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er ſo vortrefflich auseinandergeſetzt hat, das kann doch Ariſtote- les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we- nigſtens iſt es unleugbar, daß Ariſtoteles ent- weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und ſolle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unluſt über das gegenwärtige Uebel eines andern, erwecken, welches ihm ſchwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden- ſchaften überhaupt, die uns von einem andern mit- Z

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/183
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. [177]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/183>, abgerufen am 21.11.2024.