nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißi- ger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieses schei- net er, höchstens nur in Absicht auf die mechani- schen Regeln der Kunst, gethan zu haben. Jn den wesentlichern ließ er sich um ihn unbeküm- mert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn ver- stoßen haben wollte: so suchte er sich durch Aus- legungen zu helfen, und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.
Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne ge- bracht, und sie als die vollkommensten untadel- haftesten Personen geschildert; er hatte die ab- scheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bey diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden möge? "O, sagt er, mit den Aristoteles "können wir uns hier leicht vergleichen. (*) "Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht "behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, "sowohl Furcht als Mitleid, nöthig wären, um
"die
(*)Il est aise de nous accommoder avec Aristo- te &c.
nur auch während der Zeit ſeiner Arbeit fleißi- ger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieſes ſchei- net er, höchſtens nur in Abſicht auf die mechani- ſchen Regeln der Kunſt, gethan zu haben. Jn den weſentlichern ließ er ſich um ihn unbeküm- mert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verſtoßen, gleichwohl nicht wider ihn ver- ſtoßen haben wollte: ſo ſuchte er ſich durch Aus- legungen zu helfen, und ließ ſeinen vorgeblichen Lehrmeiſter Dinge ſagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.
Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne ge- bracht, und ſie als die vollkommenſten untadel- hafteſten Perſonen geſchildert; er hatte die ab- ſcheulichſten Ungeheuer in dem Pruſias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Ariſtoteles, daß ſie zur Tragödie unſchicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bey dieſem Widerſpruche weder ſein Anſehen, noch das Anſehen des Ariſtoteles leiden möge? „O, ſagt er, mit den Ariſtoteles „können wir uns hier leicht vergleichen. (*) „Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht „behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, „ſowohl Furcht als Mitleid, nöthig wären, um
„die
(*)Il eſt aiſé de nous accommoder avec Ariſto- te &c.
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nur auch während der Zeit ſeiner Arbeit fleißi-
ger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieſes ſchei-
net er, höchſtens nur in Abſicht auf die mechani-
ſchen Regeln der Kunſt, gethan zu haben. Jn
den weſentlichern ließ er ſich um ihn unbeküm-
mert, und als er am Ende fand, daß er wider
ihn verſtoßen, gleichwohl nicht wider ihn ver-
ſtoßen haben wollte: ſo ſuchte er ſich durch Aus-
legungen zu helfen, und ließ ſeinen vorgeblichen
Lehrmeiſter Dinge ſagen, an die er offenbar nie
gedacht hatte.
Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne ge-
bracht, und ſie als die vollkommenſten untadel-
hafteſten Perſonen geſchildert; er hatte die ab-
ſcheulichſten Ungeheuer in dem Pruſias, in dem
Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von
beiden Gattungen behauptet Ariſtoteles, daß ſie
zur Tragödie unſchicklich wären, weil beide
weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten.
Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt
er es an, damit bey dieſem Widerſpruche weder
ſein Anſehen, noch das Anſehen des Ariſtoteles
leiden möge? „O, ſagt er, mit den Ariſtoteles
„können wir uns hier leicht vergleichen. (*)
„Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht
„behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich,
„ſowohl Furcht als Mitleid, nöthig wären, um
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(*) Il eſt aiſé de nous accommoder avec Ariſto-
te &c.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/189>, abgerufen am 21.11.2024.
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