langt. Dieses einzige Stück würde gleichsam der Punkt seyn, in welchem zwey gegen einander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begeg- nen. -- So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war ver- bunden, auf die Worte seines Autors aufmerk- samer zu seyn, und diese besagen es zu positiv, daß unser Mitleid und unsere Furcht, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie sehr ge- ring seyn würde, wenn er blos hierauf einge- schränkt wäre: so ließ er sich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenschaften beyzulegen. Wie nun Corneille diese für sein Theil leugnete, und in Beyspielen zeigte, daß sie mehr ein schöner Gedanke, als eine Sache sey, die gewöhnlicher Weise zur Wirklichkeit gelange: so mußte er sich mit ihm in diese Bey- spiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, daß er die gewaltsamsten Drehun- gen und Wendungen machen mußte, um seinen Aristoteles mit sich durch zu bringen. Jch sage, seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit ent- fernt, solcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieser, um es abermals und aber- mals zu sagen, hat an keine andere Leidenschaf-
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langt. Dieſes einzige Stück würde gleichſam der Punkt ſeyn, in welchem zwey gegen einander ſich neigende gerade Linien zuſammentreffen, um ſich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begeg- nen. — So gar ſehr konnte Dacier den Sinn des Ariſtoteles nicht verfehlen. Er war ver- bunden, auf die Worte ſeines Autors aufmerk- ſamer zu ſeyn, und dieſe beſagen es zu poſitiv, daß unſer Mitleid und unſere Furcht, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget werden ſollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie ſehr ge- ring ſeyn würde, wenn er blos hierauf einge- ſchränkt wäre: ſo ließ er ſich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenſchaften beyzulegen. Wie nun Corneille dieſe für ſein Theil leugnete, und in Beyſpielen zeigte, daß ſie mehr ein ſchöner Gedanke, als eine Sache ſey, die gewöhnlicher Weiſe zur Wirklichkeit gelange: ſo mußte er ſich mit ihm in dieſe Bey- ſpiele ſelbſt einlaſſen, wo er ſich denn ſo in der Enge fand, daß er die gewaltſamſten Drehun- gen und Wendungen machen mußte, um ſeinen Ariſtoteles mit ſich durch zu bringen. Jch ſage, ſeinen Ariſtoteles: denn der rechte iſt weit ent- fernt, ſolcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieſer, um es abermals und aber- mals zu ſagen, hat an keine andere Leidenſchaf-
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[204/0210]
langt. Dieſes einzige Stück würde gleichſam
der Punkt ſeyn, in welchem zwey gegen einander
ſich neigende gerade Linien zuſammentreffen, um
ſich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begeg-
nen. — So gar ſehr konnte Dacier den Sinn
des Ariſtoteles nicht verfehlen. Er war ver-
bunden, auf die Worte ſeines Autors aufmerk-
ſamer zu ſeyn, und dieſe beſagen es zu poſitiv,
daß unſer Mitleid und unſere Furcht, durch das
Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget
werden ſollen. Weil er aber ohne Zweifel
glaubte, daß der Nutzen der Tragödie ſehr ge-
ring ſeyn würde, wenn er blos hierauf einge-
ſchränkt wäre: ſo ließ er ſich verleiten, nach der
Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige
Reinigung auch aller übrigen Leidenſchaften
beyzulegen. Wie nun Corneille dieſe für ſein
Theil leugnete, und in Beyſpielen zeigte, daß
ſie mehr ein ſchöner Gedanke, als eine Sache
ſey, die gewöhnlicher Weiſe zur Wirklichkeit
gelange: ſo mußte er ſich mit ihm in dieſe Bey-
ſpiele ſelbſt einlaſſen, wo er ſich denn ſo in der
Enge fand, daß er die gewaltſamſten Drehun-
gen und Wendungen machen mußte, um ſeinen
Ariſtoteles mit ſich durch zu bringen. Jch ſage,
ſeinen Ariſtoteles: denn der rechte iſt weit ent-
fernt, ſolcher Drehungen und Wendungen zu
bedürfen. Dieſer, um es abermals und aber-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/210>, abgerufen am 21.11.2024.
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