ten gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen solle, als an unser Mit- leid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaft viel oder wenig beyträgt. An jene Reinigung hätte sich Dacier allein hal- ten sollen: aber freylich hätte er sodann auch einen vollständigern Begriff damit verbinden müssen. "Wie die Tragödie, sagt er, Mit- "leid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht "zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklären. "Sie erregt sie, indem sie uns das Unglück vor "Augen stellet, in das unsers gleichen durch "nicht vorsetzliche Fehler gefallen sind; und sie "reiniget sie, indem sie uns mit diesem nehm- "lichen Unglücke bekannt macht, und uns da- "durch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, "noch allzusehr davon gerührt zu werden, wann "es uns wirklich selbst treffen sollte. -- Sie be- "reitet die Menschen, die allerwidrigsten Zu- "fälle muthig zu ertragen, und macht die Aller- "elendensten geneigt, sich für glücklich zu hal- "ten, indem sie ihre Unglücksfällen mit weit "größern vergleichen, die ihnen die Tragödie "vorstellet. Denn in welchen Umständen kann "sich wohl ein Mensch finden, der bey Erblickung "eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests, "nicht erkennen müßte, daß alle Uebel, die er "zu erdulden, gegen die, welche diese Männer
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ten gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen ſolle, als an unſer Mit- leid und unſere Furcht ſelbſt; und es iſt ihm ſehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenſchaft viel oder wenig beyträgt. An jene Reinigung hätte ſich Dacier allein hal- ten ſollen: aber freylich hätte er ſodann auch einen vollſtändigern Begriff damit verbinden müſſen. „Wie die Tragödie, ſagt er, Mit- „leid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht „zu reinigen, das iſt nicht ſchwer zu erklären. „Sie erregt ſie, indem ſie uns das Unglück vor „Augen ſtellet, in das unſers gleichen durch „nicht vorſetzliche Fehler gefallen ſind; und ſie „reiniget ſie, indem ſie uns mit dieſem nehm- „lichen Unglücke bekannt macht, und uns da- „durch lehret, es weder allzuſehr zu fürchten, „noch allzuſehr davon gerührt zu werden, wann „es uns wirklich ſelbſt treffen ſollte. — Sie be- „reitet die Menſchen, die allerwidrigſten Zu- „fälle muthig zu ertragen, und macht die Aller- „elendenſten geneigt, ſich für glücklich zu hal- „ten, indem ſie ihre Unglücksfällen mit weit „größern vergleichen, die ihnen die Tragödie „vorſtellet. Denn in welchen Umſtänden kann „ſich wohl ein Menſch finden, der bey Erblickung „eines Oedips, eines Philoktets, eines Oreſts, „nicht erkennen müßte, daß alle Uebel, die er „zu erdulden, gegen die, welche dieſe Männer
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[205/0211]
ten gedacht, welche das Mitleid und die Furcht
der Tragödie reinigen ſolle, als an unſer Mit-
leid und unſere Furcht ſelbſt; und es iſt ihm ſehr
gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der
übrigen Leidenſchaft viel oder wenig beyträgt.
An jene Reinigung hätte ſich Dacier allein hal-
ten ſollen: aber freylich hätte er ſodann auch
einen vollſtändigern Begriff damit verbinden
müſſen. „Wie die Tragödie, ſagt er, Mit-
„leid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht
„zu reinigen, das iſt nicht ſchwer zu erklären.
„Sie erregt ſie, indem ſie uns das Unglück vor
„Augen ſtellet, in das unſers gleichen durch
„nicht vorſetzliche Fehler gefallen ſind; und ſie
„reiniget ſie, indem ſie uns mit dieſem nehm-
„lichen Unglücke bekannt macht, und uns da-
„durch lehret, es weder allzuſehr zu fürchten,
„noch allzuſehr davon gerührt zu werden, wann
„es uns wirklich ſelbſt treffen ſollte. — Sie be-
„reitet die Menſchen, die allerwidrigſten Zu-
„fälle muthig zu ertragen, und macht die Aller-
„elendenſten geneigt, ſich für glücklich zu hal-
„ten, indem ſie ihre Unglücksfällen mit weit
„größern vergleichen, die ihnen die Tragödie
„vorſtellet. Denn in welchen Umſtänden kann
„ſich wohl ein Menſch finden, der bey Erblickung
„eines Oedips, eines Philoktets, eines Oreſts,
„nicht erkennen müßte, daß alle Uebel, die er
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/211>, abgerufen am 21.11.2024.
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