gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hören: und diese fodern, daß wir nichts als den Men- schen hören sollen.
Aber die zweyte Ursache? -- Sollte es mög- lich seyn, daß der Mangel eines geräumlichen Theaters und guter Verzierungen, einen solchen Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt hätte? Jst es wahr, daß jede tragische Hand- lung Pomp und Zurüstungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht vielmehr sein Stück so einrichten, daß es auch ohne diese Dinge seine völlige Wirkung hervorbrächte?
Nach dem Aristoteles, sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid, sagt der Philosoph, läßt "sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber "auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten "selbst entspringen, welches letztere vorzüglicher, "und die Weise des bessern Dichters ist. Denn "die Fabel muß so eingerichtet seyn, daß sie, "auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer "Begebenheiten blos anhört, zu Mitleid und "Furcht über diese Begebenheiten bringet; so "wie die Fabel des Oedips, die man nur anhö- "ren darf, um dazu gebracht zu werden. Diese "Absicht aber durch das Gesicht erreichen wol- "len, erfodert weniger Kunst, und ist deren "Sache, welche die Vorstellung des Stücks "übernommen."
Wie
gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene laſſen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeiſter hören: und dieſe fodern, daß wir nichts als den Men- ſchen hören ſollen.
Aber die zweyte Urſache? — Sollte es mög- lich ſeyn, daß der Mangel eines geräumlichen Theaters und guter Verzierungen, einen ſolchen Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt hätte? Jſt es wahr, daß jede tragiſche Hand- lung Pomp und Zurüſtungen erfodert? Oder ſollte der Dichter nicht vielmehr ſein Stück ſo einrichten, daß es auch ohne dieſe Dinge ſeine völlige Wirkung hervorbrächte?
Nach dem Ariſtoteles, ſollte er es allerdings. „Furcht und Mitleid, ſagt der Philoſoph, läßt „ſich zwar durchs Geſicht erregen; es kann aber „auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten „ſelbſt entſpringen, welches letztere vorzüglicher, „und die Weiſe des beſſern Dichters iſt. Denn „die Fabel muß ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie, „auch ungeſehen, den, der den Verlauf ihrer „Begebenheiten blos anhört, zu Mitleid und „Furcht über dieſe Begebenheiten bringet; ſo „wie die Fabel des Oedips, die man nur anhö- „ren darf, um dazu gebracht zu werden. Dieſe „Abſicht aber durch das Geſicht erreichen wol- „len, erfodert weniger Kunſt, und iſt deren „Sache, welche die Vorſtellung des Stücks „übernommen.„
Wie
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gelungen, die Erregung des Mitleids und der
Furcht damit zu verbinden. Jene laſſen uns
nichts als den Fat, oder den Schulmeiſter hören:
und dieſe fodern, daß wir nichts als den Men-
ſchen hören ſollen.
Aber die zweyte Urſache? — Sollte es mög-
lich ſeyn, daß der Mangel eines geräumlichen
Theaters und guter Verzierungen, einen ſolchen
Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt
hätte? Jſt es wahr, daß jede tragiſche Hand-
lung Pomp und Zurüſtungen erfodert? Oder
ſollte der Dichter nicht vielmehr ſein Stück ſo
einrichten, daß es auch ohne dieſe Dinge ſeine
völlige Wirkung hervorbrächte?
Nach dem Ariſtoteles, ſollte er es allerdings.
„Furcht und Mitleid, ſagt der Philoſoph, läßt
„ſich zwar durchs Geſicht erregen; es kann aber
„auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten
„ſelbſt entſpringen, welches letztere vorzüglicher,
„und die Weiſe des beſſern Dichters iſt. Denn
„die Fabel muß ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie,
„auch ungeſehen, den, der den Verlauf ihrer
„Begebenheiten blos anhört, zu Mitleid und
„Furcht über dieſe Begebenheiten bringet; ſo
„wie die Fabel des Oedips, die man nur anhö-
„ren darf, um dazu gebracht zu werden. Dieſe
„Abſicht aber durch das Geſicht erreichen wol-
„len, erfodert weniger Kunſt, und iſt deren
„Sache, welche die Vorſtellung des Stücks
„übernommen.„
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/228>, abgerufen am 21.11.2024.
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