nen hören, da ihn seine Eitelkeit überredet hat- te, daß er es sey: so unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er schon zu be- sitzen glaubte: und je älter er ward, desto hart- näckiger und unverschämter ward er, sich in die- sem träumerischen Besitze zu behaupten.
Gerade so, dünkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarey: so glaubten sie es der Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es zwar auch nie gewesen,) ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch rührender seyn kön- ne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte sich darauf einschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. Hun- dert Jahre haben sie sich selbst, und zum Theil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer, und sage ihnen das, und höre, was sie antworten!
Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet, und auf ihre tragi- schen Dichter den verderblichsten Einfluß ge- habt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt: Corneille aber, durch seine Muster und Lehren zugleich.
Diese
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nen hören, da ihn ſeine Eitelkeit überredet hat- te, daß er es ſey: ſo unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er ſchon zu be- ſitzen glaubte: und je älter er ward, deſto hart- näckiger und unverſchämter ward er, ſich in die- ſem träumeriſchen Beſitze zu behaupten.
Gerade ſo, dünkt mich, iſt es den Franzoſen ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarey: ſo glaubten ſie es der Vollkommenheit ſchon ganz nahe. Racine ſchien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es zwar auch nie geweſen,) ob der tragiſche Dichter nicht noch pathetiſcher, noch rührender ſeyn kön- ne, als Corneille und Racine, ſondern dieſes ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte ſich darauf einſchränken, dem einen oder dem andern ſo ähnlich zu werden als möglich. Hun- dert Jahre haben ſie ſich ſelbſt, und zum Theil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer, und ſage ihnen das, und höre, was ſie antworten!
Von beiden aber iſt es Corneille, welcher den meiſten Schaden geſtiftet, und auf ihre tragi- ſchen Dichter den verderblichſten Einfluß ge- habt hat. Denn Racine hat nur durch ſeine Muſter verführt: Corneille aber, durch ſeine Muſter und Lehren zugleich.
Dieſe
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nen hören, da ihn ſeine Eitelkeit überredet hat-
te, daß er es ſey: ſo unterblieb jenes. Er
konnte unmöglich erlangen, was er ſchon zu be-
ſitzen glaubte: und je älter er ward, deſto hart-
näckiger und unverſchämter ward er, ſich in die-
ſem träumeriſchen Beſitze zu behaupten.
Gerade ſo, dünkt mich, iſt es den Franzoſen
ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein
wenig aus der Barbarey: ſo glaubten ſie es der
Vollkommenheit ſchon ganz nahe. Racine ſchien
ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und
hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es
zwar auch nie geweſen,) ob der tragiſche Dichter
nicht noch pathetiſcher, noch rührender ſeyn kön-
ne, als Corneille und Racine, ſondern dieſes
ward für unmöglich angenommen, und alle
Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte
ſich darauf einſchränken, dem einen oder dem
andern ſo ähnlich zu werden als möglich. Hun-
dert Jahre haben ſie ſich ſelbſt, und zum Theil
ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme
einer, und ſage ihnen das, und höre, was ſie
antworten!
Von beiden aber iſt es Corneille, welcher den
meiſten Schaden geſtiftet, und auf ihre tragi-
ſchen Dichter den verderblichſten Einfluß ge-
habt hat. Denn Racine hat nur durch ſeine
Muſter verführt: Corneille aber, durch ſeine
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/233>, abgerufen am 21.11.2024.
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