"cheria und Martian umgekommen wären, Cleo- "patra und Phokas aber triumphiret hätten. "Das Unglück der erstern erweckt ein Mitleid, "welches durch den Abschen, den wir wider ihre "Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil "man beständig hoft, daß sich irgend ein glück- "licher Zufall eräugnen werde, der sie nicht un- "terliegen lasse." Das mag Corneille sonst jemanden weiß machen, daß Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, daß er sie, wo nicht gänzlich verwor- fen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille die- ses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahr- heit machen. Jm Grunde gehört diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht un- glücklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitlei- dige Besorgnisse für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu seyn. -- Nun, die zweyte Manier! "Auch kann es sich zutragen, sagt Corneille, "daß ein sehr tugendhafter Mann verfolgt "wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, "der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen "allzusehr zu verdienen, indem er in der Ver- "folgung, die er wider den Tugendhaften betrei-
"bet,
„cheria und Martian umgekommen wären, Cleo- „patra und Phokas aber triumphiret hätten. „Das Unglück der erſtern erweckt ein Mitleid, „welches durch den Abſchen, den wir wider ihre „Verfolger haben, nicht erſtickt wird, weil „man beſtändig hoft, daß ſich irgend ein glück- „licher Zufall eräugnen werde, der ſie nicht un- „terliegen laſſe.„ Das mag Corneille ſonſt jemanden weiß machen, daß Ariſtoteles dieſe Manier nicht gekannt habe! Er hat ſie ſo wohl gekannt, daß er ſie, wo nicht gänzlich verwor- fen, wenigſtens mit ausdrücklichen Worten für angemeſſener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille die- ſes vergeſſen hatte? Aber ſo geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahr- heit machen. Jm Grunde gehört dieſe Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht un- glücklich, ſondern befindet ſich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitlei- dige Beſorgniſſe für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu ſeyn. — Nun, die zweyte Manier! „Auch kann es ſich zutragen, ſagt Corneille, „daß ein ſehr tugendhafter Mann verfolgt „wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, „der nicht laſterhaft genug iſt, unſern Unwillen „allzuſehr zu verdienen, indem er in der Ver- „folgung, die er wider den Tugendhaften betrei-
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„cheria und Martian umgekommen wären, Cleo-
„patra und Phokas aber triumphiret hätten.
„Das Unglück der erſtern erweckt ein Mitleid,
„welches durch den Abſchen, den wir wider ihre
„Verfolger haben, nicht erſtickt wird, weil
„man beſtändig hoft, daß ſich irgend ein glück-
„licher Zufall eräugnen werde, der ſie nicht un-
„terliegen laſſe.„ Das mag Corneille ſonſt
jemanden weiß machen, daß Ariſtoteles dieſe
Manier nicht gekannt habe! Er hat ſie ſo wohl
gekannt, daß er ſie, wo nicht gänzlich verwor-
fen, wenigſtens mit ausdrücklichen Worten für
angemeſſener der Komödie als Tragödie erklärt
hat. Wie war es möglich, daß Corneille die-
ſes vergeſſen hatte? Aber ſo geht es allen, die
im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahr-
heit machen. Jm Grunde gehört dieſe Manier
auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle.
Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht un-
glücklich, ſondern befindet ſich nur auf dem
Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitlei-
dige Beſorgniſſe für ihn erregen kann, ohne
gräßlich zu ſeyn. — Nun, die zweyte Manier!
„Auch kann es ſich zutragen, ſagt Corneille,
„daß ein ſehr tugendhafter Mann verfolgt
„wird, und auf Befehl eines andern umkömmt,
„der nicht laſterhaft genug iſt, unſern Unwillen
„allzuſehr zu verdienen, indem er in der Ver-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/242>, abgerufen am 21.11.2024.
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