glücke selbst, das jene unverschuldet trift; daß sie einmal so unverschuldet trift als das andere, ihre Verfolger mögen böse oder schwach seyn, mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fal- len. Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben sollte, daß er eben so unrichtig als got- teslästerlich ist? -- Das nehmliche würde sicher- lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst näher anzugeben, ver- gessen hätte.
5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tra- gischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor- neille seine Läuterungen bey. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben fähig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: so könne doch ein jeder ir- gend eine jenen Lastern ähnliche Unvollkommen- heit bey sich hegen, und durch die Furcht vor
den
glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere, ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn, mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal- len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got- tesläſterlich iſt? — Das nehmliche würde ſicher- lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver- geſſen hätte.
5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra- giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor- neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar, geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube, und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir- gend eine jenen Laſtern ähnliche Unvollkommen- heit bey ſich hegen, und durch die Furcht vor
den
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glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß
ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere,
ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn,
mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal-
len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt
gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die
ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die
Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo
weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich:
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns
an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen?
wir? die Religion und Vernunft überzeuget
haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got-
tesläſterlich iſt? — Das nehmliche würde ſicher-
lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn
ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver-
geſſen hätte.
5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der
Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra-
giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder
Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor-
neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar,
geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den
Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube,
und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht
zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/244>, abgerufen am 21.11.2024.
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