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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"Wenigstens, Madame, erwiederte Selim,
"werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi-
"soden uns aus der Täuschung heraus bringen,
"der Dialog uns wieder herein setzt. Jch
"wüßte nicht, wer das besser verstünde, als un-
"sere tragische Dichter."

"Nun so versteht es durchaus niemand, ant-
"wortete Mirzoza. Das Gesuchte, das Witzi-
"ge, das Spielende, das darinn herrscht, ist
"tausend und tausend Meilen von der Natur
"entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu
"verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und
"ich erblicke ihn unauf hörlich hinter seinen
"Personen. Cinna, Sertorius, Maximus,
"Aemilia, sind alle Augenblicke das Sprachrohr
"des Corneille. So spricht man bey unsern al-
"ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri-
"caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige
"Stellen daraus übersetzen; und sie werden die
"bloße Natur hören, die sich durch den Mund
"derselben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern
"zu den Neuern sagen: "Meine Herren, an-
"statt daß ihr euern Personen bey aller Gelegen-
"heit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Um-
"stände zu setzen, die ihnen welchen geben."

"Nach dem zu urtheilen, was Madame von
"dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dra-
"matischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl

"nicht,
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„Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim,
„werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi-
„ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen,
„der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch
„wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un-
„ſere tragiſche Dichter.„

„Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant-
„wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi-
„ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt
„tauſend und tauſend Meilen von der Natur
„entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu
„verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und
„ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen
„Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus,
„Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr
„des Corneille. So ſpricht man bey unſern al-
„ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri-
„caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige
„Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die
„bloße Natur hören, die ſich durch den Mund
„derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern
„zu den Neuern ſagen: „Meine Herren, an-
„ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen-
„heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um-
„ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.„

„Nach dem zu urtheilen, was Madame von
„dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra-
„matiſchen Stücke geſagt hat, ſcheint es wohl

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[259/0265] „Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim, „werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi- „ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen, „der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch „wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un- „ſere tragiſche Dichter.„ „Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant- „wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi- „ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt „tauſend und tauſend Meilen von der Natur „entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu „verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und „ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen „Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus, „Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr „des Corneille. So ſpricht man bey unſern al- „ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri- „caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige „Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die „bloße Natur hören, die ſich durch den Mund „derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern „zu den Neuern ſagen: „Meine Herren, an- „ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen- „heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um- „ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.„ „Nach dem zu urtheilen, was Madame von „dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra- „matiſchen Stücke geſagt hat, ſcheint es wohl „nicht, K k 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/265>, abgerufen am 21.11.2024.