"werk, und der Charakter das Zufällige wer- "den. Aus dem Charakter zog man die ganze "Jntrigue: man suchte durchgängig die Um- "stände, in welchen er sich am besten äußert, "und verband diese Umstände unter einander. "Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, "die Vortheile, die Unbequemlichkeiten dessel- "ben zur Grundlage des Werks dienen. Diese "Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit "größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, "als die Quelle der Charaktere. War der Cha- "rakter nur ein wenig übertrieben, so konnte "der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich "nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, "daß der Stand, den man spielt, sein Stand "ist; seine Pflichten kann er unmöglich verken- "nen. Er muß das, was er hört, nothwendig "auf sich anwenden."
Was Palissot hierwider erinnert, (*) ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur so arm an ursprünglichen Charakteren sey, daß sie die komischen Dichter bereits sollten erschöpft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich, und glaubte kaum den al- lerkleinsten Theil von denen behandelt zu ha- ben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwin-
digkeit
(*)Petites Lettres sur de grands Philosophes Lettr. II.
„werk, und der Charakter das Zufällige wer- „den. Aus dem Charakter zog man die ganze „Jntrigue: man ſuchte durchgängig die Um- „ſtände, in welchen er ſich am beſten äußert, „und verband dieſe Umſtände unter einander. „Künftig muß der Stand, müſſen die Pflichten, „die Vortheile, die Unbequemlichkeiten deſſel- „ben zur Grundlage des Werks dienen. Dieſe „Quelle ſcheint mir weit ergiebiger, von weit „größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, „als die Quelle der Charaktere. War der Cha- „rakter nur ein wenig übertrieben, ſo konnte „der Zuſchauer zu ſich ſelbſt ſagen: das bin ich „nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, „daß der Stand, den man ſpielt, ſein Stand „iſt; ſeine Pflichten kann er unmöglich verken- „nen. Er muß das, was er hört, nothwendig „auf ſich anwenden.„
Was Paliſſot hierwider erinnert, (*) iſt nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur ſo arm an urſprünglichen Charakteren ſey, daß ſie die komiſchen Dichter bereits ſollten erſchöpft haben. Moliere ſahe noch genug neue Charaktere vor ſich, und glaubte kaum den al- lerkleinſten Theil von denen behandelt zu ha- ben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verſchiedne derſelben in der Geſchwin-
digkeit
(*)Petites Lettres ſur de grands Philoſophes Lettr. II.
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„werk, und der Charakter das Zufällige wer-
„den. Aus dem Charakter zog man die ganze
„Jntrigue: man ſuchte durchgängig die Um-
„ſtände, in welchen er ſich am beſten äußert,
„und verband dieſe Umſtände unter einander.
„Künftig muß der Stand, müſſen die Pflichten,
„die Vortheile, die Unbequemlichkeiten deſſel-
„ben zur Grundlage des Werks dienen. Dieſe
„Quelle ſcheint mir weit ergiebiger, von weit
„größerm Umfange, von weit größerm Nutzen,
„als die Quelle der Charaktere. War der Cha-
„rakter nur ein wenig übertrieben, ſo konnte
„der Zuſchauer zu ſich ſelbſt ſagen: das bin ich
„nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen,
„daß der Stand, den man ſpielt, ſein Stand
„iſt; ſeine Pflichten kann er unmöglich verken-
„nen. Er muß das, was er hört, nothwendig
„auf ſich anwenden.„
Was Paliſſot hierwider erinnert, (*) iſt
nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die
Natur ſo arm an urſprünglichen Charakteren
ſey, daß ſie die komiſchen Dichter bereits ſollten
erſchöpft haben. Moliere ſahe noch genug neue
Charaktere vor ſich, und glaubte kaum den al-
lerkleinſten Theil von denen behandelt zu ha-
ben, die er behandeln könne. Die Stelle, in
welcher er verſchiedne derſelben in der Geſchwin-
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(*) Petites Lettres ſur de grands Philoſophes
Lettr. II.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/272>, abgerufen am 24.11.2024.
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