Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-
kommnen Charaktere. Die Personen seiner
Stände würden nie etwas anders thun, als
was sie nach Pflicht und Gewissen thun müßten;
sie würden handeln, völlig wie es im Buche
steht. Erwarten wir das in der Komödie?
Können dergleichen Vorstellungen anziehend
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-
von hoffen dürfen, groß genug seyn, daß es sich
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür
fest zu setzen, und für diese eine eigene Dicht-
kunst zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere
scheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-
kundiget zu haben. Jn seinen Stücken steuert
er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kri-
tischen Seekarten findet sich durchaus keine
Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-
then. Man erinnere sich nur, was er, bey
Gelegenheit des Contrasts unter den Charakte-
ren, von den Brüdern des Terenz sagt. (*)
"Die zwey contrastirten Väter darinn sind mit
"so gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem
"feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die
"Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob
"es Demea seyn soll? Fällt er sein Urtheil vor

"dem
(*) Jn der dr. Dichtkunst hinter dem Hausvater
S. 358. d. Uebers.

Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-
kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner
Stände würden nie etwas anders thun, als
was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten;
ſie würden handeln, völlig wie es im Buche
ſteht. Erwarten wir das in der Komödie?
Können dergleichen Vorſtellungen anziehend
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-
von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür
feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht-
kunſt zu ſchreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere
ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-
kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert
er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri-
tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine
Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-
then. Man erinnere ſich nur, was er, bey
Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte-
ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*)
„Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit
„ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem
„feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die
„Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob
„es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor

„dem
(*) Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater
S. 358. d. Ueberſ.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0276" n="270"/>
Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-<lb/>
kommnen Charaktere. Die Per&#x017F;onen &#x017F;einer<lb/>
Stände würden nie etwas anders thun, als<lb/>
was &#x017F;ie nach Pflicht und Gewi&#x017F;&#x017F;en thun müßten;<lb/>
&#x017F;ie würden handeln, völlig wie es im Buche<lb/>
&#x017F;teht. Erwarten wir das in der Komödie?<lb/>
Können dergleichen Vor&#x017F;tellungen anziehend<lb/>
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-<lb/>
von hoffen dürfen, groß genug &#x017F;eyn, daß es &#x017F;ich<lb/>
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür<lb/>
fe&#x017F;t zu &#x017F;etzen, und für die&#x017F;e eine eigene Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t zu &#x017F;chreiben?</p><lb/>
        <p>Die Klippe der vollkommenen Charaktere<lb/>
&#x017F;cheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-<lb/>
kundiget zu haben. Jn &#x017F;einen Stücken &#x017F;teuert<lb/>
er ziemlich gerade darauf los: und in &#x017F;einen kri-<lb/>
ti&#x017F;chen Seekarten findet &#x017F;ich durchaus keine<lb/>
Warnung davor. Vielmehr finden &#x017F;ich Dinge<lb/>
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-<lb/>
then. Man erinnere &#x017F;ich nur, was er, bey<lb/>
Gelegenheit des Contra&#x017F;ts unter den Charakte-<lb/>
ren, von den Brüdern des Terenz &#x017F;agt. <note place="foot" n="(*)">Jn der dr. Dichtkun&#x017F;t hinter dem Hausvater<lb/>
S. 358. d. Ueber&#x017F;.</note><lb/>
&#x201E;Die zwey contra&#x017F;tirten Väter darinn &#x017F;ind mit<lb/>
&#x201E;&#x017F;o gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem<lb/>
&#x201E;fein&#x017F;ten Kun&#x017F;trichter Trotz bieten kann, die<lb/>
&#x201E;Hauptper&#x017F;on zu nennen; ob es Micio oder ob<lb/>
&#x201E;es Demea &#x017F;eyn &#x017F;oll? Fällt er &#x017F;ein Urtheil vor<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;dem</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0276] Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll- kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner Stände würden nie etwas anders thun, als was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten; ſie würden handeln, völlig wie es im Buche ſteht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorſtellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir da- von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht- kunſt zu ſchreiben? Die Klippe der vollkommenen Charaktere ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er- kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri- tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra- then. Man erinnere ſich nur, was er, bey Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte- ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*) „Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit „ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem „feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die „Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob „es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor „dem (*) Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater S. 358. d. Ueberſ.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/276
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/276>, abgerufen am 21.11.2024.